Wandern im finsteren Tal

Jungregisseur Christian Alvart hat mit «Antikörper» einen so packenden wie radikalen, grandios gefilmten, geschriebenen und gespielten Serienkiller-Thriller mit psychologischer Tiefe geschaffen.

 

von Sandro Danilo Spadini

Berlin. Nacht. Es regnet wie aus Kübeln. Zwei Polizisten sind zur Wohnung von Gabriel Engel (André Hennicke) gerufen worden. Sie klopfen an die Türe. Engel steht derweil nackt im Wohnzimmer. Malend. Mit Blut. Auf einem Operationstisch liegt sein bewusstloses letztes Opfer. Erneut klopfen die Gesetzeshüter an. Engel greift zur Flinte, schiesst durch die geschlossene Türe einen der Polizisten über den Haufen, verschanzt sich, wartet, bis die Kavallerie kommt, flüchtet, sprintet, springt und hechtet, bricht sich die Knochen, kriecht über Scherben und wird endlich gefasst. Gefasst nach fast zehn Jahren, nach zwölf Knabenmorden.

Atemlose Spannung

Die Ouvertüre von «Antikörper» hat es in sich und gibt schon mal einen Vorgeschmack auf das, was einen die nächsten zwei Stunden erwartet. Mittels der Extra-Portion Action und insbesondere der hochgradig stilisierten Bildsprache wird hier aber freilich auch bereits die erste von noch vielen folgenden falschen Fährten gelegt, verpflichten sich doch nur die ersten Minuten von Christian Alvarts Psychothriller der Formverliebtheit (und -vollendung) jüngerer deutscher Genreproduktionen wie Robert Schwentkes «Tattoo» oder Mennan Yapos «Lautlos», denen die Optik fast alles und der Buchstabe kaum etwas ist. Der düsteren Atmosphäre des Ersteren und der kühlen Geschmeidigkeit des Letzteren in nichts nachstehend, versteht es der erst 30-jährige Alvart nämlich gleichzeitig auch, eine fesselnde, durchaus komplex konstruierte Geschichte ohne grössere Logiklöcher zu erzählen und überdies in psychologische Tiefen zu tauchen. Das von ihm mit Liebe zum gepflegten und gewitzten Dialog geschriebene Skript öffnet dem Zuschauer dabei nur ein kurzes Fenster zum Luftholen; denn bereits nach der auf das Auftaktfurioso folgenden Vorspannsequenz ist wieder atemlose Spannung angesagt, obzwar es zunächst von der Berliner Metropole aufs Land geht, in ein laut Todesengel Gabriel «spiessiges Katholiken-Kaff», wo der streng gläubige Dorfpolizist Michael Martens (Wotan Wilke Möhring) mit (zu) heiligem Eifer seit anderthalb Jahren den Mord an einem elfjährigen Mädchen aufzuklären sucht. Zusammengefügt werden die beiden nur anfangs etwas holprig, alsdann zügig und souverän entwickelten Parallelplots nach dem ersten Drittel: Aufgeschreckt vom Fahndungserfolg der Berliner Kollegen unter der Leitung des kernigen Kommissars Seiler (Heinz Hönig), reist Martens in die pulsierende Kapitale, wo der in Hannibal-Lecter-Manier Spielchen spielende Psychopath des Verhörs harrt und allerlei Versuchungen – eine sündhaft attraktive in Person von Nina Proll – dem schwachen Fleisch auflauern. Von hier aus beginnt für Martens nun ein mit einer kleinen, aber scharfen Prise Erotik gewürztes Wandern im finsteren Tal, das auch noch den gottesfürchtigsten Katholiken allmählich Unglück befürchten lässt, zumal zu bezweifeln steht, dass der Allmächtige wirklich bei Martens und seiner mehr und mehr in den Fall involvierten Familie ist.

Keine leichte Kost

Ohne die auf allen Ebenen immerzu anklingenden und an manchen Stellen sogar explizit zitierten US-Vorbilder zu kopieren, spielt Alvart bei seiner zweiten Regiearbeit stets stilsicher auf der Klaviatur seines Genres und kratzt an dessen Ränder, wenn er zusehends das psychologische über das Thriller-spezifische Element stellt. Spannungseinbussen bringen indes weder diese Verlagerung noch die zeitintensive Schilderung des Abdriftens des von Wotan Wilke Möhring eindringlich verkörperten und von Alvart mit klaren Konturen versehenen Antihelden mit sich. Auch wenn sich die Kamera bisweilen einer gewissen morbiden Lüsternheit verdächtig macht, die Inszenierung mitunter unter der Last der religiösen Symbolik ächzt und Hennicke wie Hönig bei aller Könnerschaft hart an der Grenze zur Karikatur agieren – letztlich hat Alvart alles richtig gemacht und einen Film geschaffen, den man nicht so sehr der schweren Kost wegen als vielmehr wegen seiner schieren Klasse so schnell nicht vergisst. «Antikörper» ist weniger sperrig, aber ebenso gewagt und gar noch radikaler als Nico Hofmanns skandalträchtiges «Solo für Klarinette» und damit per saldo in jeder Hinsicht der spannendste Thriller aus deutschen Landen seit Ewigkeiten.