Und vergib uns unsere Schuld

Ein überragend aufspielendes Darsteller-Ensemble macht Clint Eastwoods atmosphärisch dichten und psychologisch vielschichtigen Thriller «Mystic River» zu einem kleinen Meisterwerk.

 

von Sandro Danilo Spadini

Der 29. März 1993 markiert den vorläufigen Höhepunkt in der Karriere des Regisseurs Clint Eastwood: Sein düsterer Spätwestern «Unforgiven» bescherte ihm den Oscar in den Kategorien Bester Film und Beste Regie, eine Ehre, die ihm als Schauspieler bis heute verwehrt geblieben ist. Mit dem Kassenschlager «Perfect World» und dem subtilen Drama «The Bridges of Madison County» verbuchte Eastwood anschliessend weitere Achtungserfolge, doch seither zeigt die Qualitätskurve seiner Regiearbeiten zwar nicht dramatisch, wohl aber kontinuierlich nach unten. Derweil der Thriller «Absolute Power» und das Gerichtsdrama «Midnight in the Garden of Good and Evil» zumindest in Ansätzen grosses Kino erahnen liessen, versanken seine drei letzten Filme «True Crime», «Space Cowboys» und «Blood Work» im leidlich gehobenen Durchschnitt.

Brillant besetzt

Der Thriller «Mystic River» ist nun also der bereits achte Film, den Eastwood in den letzten zehn Jahren inszeniert hat; vierundzwanzig sind es inzwischen insgesamt. Damit gehört der rüstige Altstar zweifellos zu den fleissigsten Regisseuren Hollywoods, wobei die Quantität mitunter gewiss zugunsten der Qualität hätte zurückstehen dürfen. Eastwoods neuer Film allerdings ist ein kleines Meisterwerk, seine mit Abstand beste Regiearbeit seit «Unforgiven», dank einer grandiosen Besetzung womöglich gar seine beste überhaupt, stand ihm doch für seine Adaption von Dennis Lehanes hoch gelobtem Roman mit Sean Penn, Tim Robbins und Kevin Bacon in den Hauptrollen sowie Laurence Fishburne, Laura Linney und Oscar-Preisträgerin Marcia Gay Harden («Pollock») ein Ensemble von profilierten, im Charakterfach bereits zur Genüge bewährten Darstellern zur Verfügung. Die sich ausschliesslich in einem rauen Bostoner Arbeiterviertel abspielende Geschichte des mit gewohnt ruhiger Hand inszenierten, ästhetisch fotografierten und atmosphärisch überaus dichten Films hört sich vordergründig nach einem gewöhnlichen «Whodunnit» an: Drei Jugendfreunde, die durch ein traumatisches Erlebnis bereits in der Kindheit auseinander gerissen wurden, werden durch einen brutalen Mordfall wieder zusammengeführt. Der eine (Penn) ist der Vater des Opfers, der zweite (Bacon) der ermittelnde Kriminalbeamte und der dritte (Robbins) einer der Tatverdächtigen. Die Frage nach dem Schuldigen für die Tat rückt im Verlauf der 137 packenden Minuten jedoch mehr und mehr in den Hintergrund, weshalb die – auf Krimiebene – nicht restlos befriedigende Auflösung kaum negativ ins Gewicht fällt. Denn über Schuld wird hier auf einer weit höheren Ebene verhandelt.

Vielschichtiges Drama

«Mystic River» ist ein psychologisch vielschichtiger, die Vergangenheit mit der Gegenwart verwebender Film über Geheimnisse und Verdächtigungen, Loyalität und Verrat, Sünde und Vergebung, über Freundschaft, über Schmerz und über Menschen. Es bedurfte wohl schon eines Mannes mit der Lebenserfahrung von 73 Jahren, um wieder einmal aufzuzeigen, dass auch im Mainstream-Kino ungekünsteltes Mitgefühl ohne jegliche Effekthascherei gegenüber Menschen aus Fleisch und Blut seinen Platz haben kann. Diese Menschen werden verkörpert von Schauspielern, die mit bestechender Präzision, mit Courage, Aufrichtigkeit und einer Intensität, die bisweilen wehtut, ihr Bestes aus sich herausholen. Penn, von dem man sich ab und an vielleicht ein wenig mehr Zurückhaltung wünschen würde, ist perfekt für den gross, aber nie richtig erwachsen gewordenen Strassenjungen; Bacon als willkommener ruhender Pol inmitten dieses hoch emotionalen Dramas versteht es mit ungeheuerer Präzision, die innere Zerrissenheit seiner Figur gänzlich unaufdringlich abzubilden, und Robbins mit seiner nuancierten Darstellung einer traumatisierten und für immer verlorenen Seele, der letztlich tragischsten Figur des Films, war noch nie besser; unter den sich in toto in Galaform präsentierenden Nebendarstellern sticht schliesslich Marcia Gay Harden mit einer erneut Oscar-reifen Leistung heraus. «Mystic River» ist pures, streckenweise magisches Kino, ein Film für Schauspieler, ein Film eines Routiniers, der sich nicht in den Vordergrund drängt und die grosse Bühne gelassen seinen jüngeren Stars überlässt.