Kinder an der Macht

Wer mit Vampiren und Superhelden nichts anfangen kann und trotzdem Unterhaltung sucht, wird im Mainstream-Kino kaum mehr fündig. Zum Glück gibt es noch das Fernsehen. Dorthin hat sich eine einstige Kernkompetenz des Kinos verschoben: das Erzählen von Geschichten.

 

Von Sandro Danilo Spadini

 

Wer noch nicht wusste, in welchem Zustand das Hollywood-Kino sich derzeit befindet, der brauchte vor ein paar Wochen bloss das Cover des «Entertainment Weekly»-Magazins anzuschauen. Darauf wurden gerade die Höhepunkte des Kinosommers angepriesen: «Avengers: Age of Ultron»; «Jurassic World»; «Ted 2»; «Magic Mike XXL»; «Mad Max: Fury Road»; «Pitch Perfect 2». Sechs Filme, sechs Sequels. Darunter ein Film mit Superhelden, einer mit Dinosauriern und einer mit einem sprechenden Teddybären. Überraschend war nur, dass nicht mehr Superhelden dabei waren. Und keine Vampire. Und keine Geister. Und keine Zombies. Und keine Aliens. Aber die fand man dann halt hinten im Heft. Allesamt. Gerne auch in Sequels. Das Magazin war dann bald weg- und eine Scheibe der neuen Staffel von «The Americans» in den DVD-Player eingelegt.


Kommerz total

 

Diese Serie um ein KGB-Schläferpaar im Reagan-Amerika ist ein treffliches Beispiel dafür, warum immer mehr Filmfreunde ins Fernsehen abwandern. Zumal jene volljährigen, die ihre Dosis gepflegte Unterhaltung in einer altersgerechteren Form geniessen möchten. Das Mainstream-Kino nämlich richtet sich heute fast nur noch an Menschen mit einer, nennen wir es, juvenilen Vorliebe für Ausserirdisches und Übernatürliches, für Fabelwesen und Comicfiguren – die Jungen sind mithin die am stärksten wachsende Kinopublikumsgruppe. Für Liebhaber von Thrillern, in denen nicht ein Geist mordet, oder von Romanzen, in denen ausschliesslich echte Menschen schmusen, ist in den Lichtspielhäusern derweil immer öfter Mattscheibe. Wohlgemerkt: Es ist selbstverständlich rein gar nichts gegen ein Faible für Drachen und Super-Spider-Bat-Iron-X-Men, für Zauberlehrlinge und Blutsauger zu sagen; es wäre einfach prima, wenn Hollywood auch wieder ab und zu an jene denken würde, die es ein wenig realitätsverhafteter mögen. Doch haben die Profitgeier längst den Kindern die Macht übergeben – Spielberg und Lucas sei Dank. Was sie im Namen der Revolution in den Siebzigern mit «Jaws» und «Star Wars» initiierten, hat sich perverserweise zur totalen Kommerzialisierung und Infantilisierung des Kinos verkehrt. Für die breite Masse produziert wird, was den Jungen gefällt. Denn die sind konsumfreudiger und leichter zu steuern entlang der schon über 50 Milliarden Dollar trächtigen Merchandisingkette von der App bis zur De-luxe-4-Disk-Blu-ray-Special-Edition. Und sie stört es auch nicht so, wenn sie immer wieder dasselbe aufgetischt bekommen: Piraten zum Vierten? Spinnenmann zum Fünften? Hobbits zum Sechsten? Furiose zum Siebten? Harry zum Achten? So gerne wie Fischstäbchen mit Pommes jeden Tag. Zwar wurde auch in den Achtzigern und den Neunzigern gerne seriell operiert oder auf Bewährtem aufgebaut: etwa mit thematischen Blöcken wie Oliver Stones Vietnam-Trilogie oder den Grisham-Verfilmungen. Doch war dabei noch eine Kompetenz zentral, die im Eventkino von heute immer unwichtiger wird: das Erzählen von Geschichten.

Spektakel mit Marken


Das grosse Geld ist damit indes nicht zu machen, und das grosse Geld meint heute Beträge an der Milliardengrenze und drüber. Das Zugpferd, das einen an diese derart üppig gefüllten Fleischtöpfe führt, ist freilich nicht der klassische Filmstar; seine Bedeutung ist massiv gesunken. Zu den Sternen greifen lässt die Traumfabrik die Technik, namentlich CGI: Computer-Generated Imagery. Entsprechend gereicht mancher Blockbuster nun zum handlungsfreien Kräftemessen der Spezialeffekte-Abteilungen. Sie haben zusammen mit den Marketingleuten denn recht eigentlich auch den Taktstock von den ebenso marginalisierten Regisseuren übernommen. Denn Summen im zehnstelligen Bereich erreicht man nur mit Spektakel. Und Fantasy. Und unbedingt mit Marken, pardon, mit «Brands»: Etabliertem also, das in dieser oder anderer Form schon unter die Leute gebracht wurde und das sich bei der (neuerlichen) Adaption dank bestehender Fangemeinde umso einfacher vermarkten lässt. Ein Blick auf die 40 einträglichsten Filme aller Zeiten zeigt das erschütternd eindrücklich: Zu finden sind da 37 Fantasyfilme, wovon nur drei (darunter «Avatar») nicht Bestandteil einer sogenannten Franchise sind; dazu mit «Skyfall» und «Furious 7» zwei Sequels aus dem, nun ja, «realistischen» Bereich; und schliesslich noch ein Film, der weder Fortsetzung noch Fantasy ist, wohl aber Spektakel bietet und auf einer Marke aufbaut: «Titanic». Doch dieser Jahrhunderthit wäre in solch aufwendiger Form heute wohl trotzdem nur noch möglich, wenn Jack im Morgengrauen Rose in den Hals bisse.


Fehlende Mittelklasse

 

Dass es auch noch Mainstream-Kino für Erwachsene gibt, wird eigentlich nur noch einmal im Jahr klar sichtbar: wenn es auf die Oscars zugeht und Hollywood mit Prestigeprojekten auf Ernst macht. Doch auch hier hat die Filmindustrie eine Masche: «basierend auf einer wahren Geschichte». Damit lässt es sich nämlich vermarktungstechnisch – etwa bei all den Musikerbiografien oder den ganzen Zweitweltkriegsfilmen – ebenfalls mit «Labels» oder den so beliebten «Brands» operieren. So wie das im Übrigen auch bei den ewigen Verfilmungen von Literaturklassikern der Fall ist, von «Madame Bovary» bis «Robin Hood». Zwar offenbaren die Oscars auch regelmässig, dass es nach wie vor genügend Genies auf den Regiestühlen gibt, das ist nicht das Problem, da gibt es null Anlass zu Kulturpessimismus. Was aber fehlt, ist die Mittelklasse, die mal einen gescheiten Krimi raushaut. Leute wie John Dahl («The Last Seduction») oder Carl Franklin («Out of Time»). Sie aber filmen längst fürs Fernsehen. Für Serien wie «Dexter», «Justified», «House of Cards», «Homeland» oder eben «The Americans». Dort haben sie permanent ihren Hafen gefunden, derweil ganz Grosse wie David Fincher, Michael Mann, Martin Scorsese und David Lynch sowie kriselnde Topshots wie die Wachowski-Geschwister und Marc Forster immerhin temporär andocken. Dass letztere beiden dabei im Übersinnlichen fischen, zeigt indes, dass auch das TV – mit «The Walking Dead», «Game of Thrones» oder Superheldenserien à la «Daredevil» – längst vom Fantastischen unterwandert wird. Noch aber ist es von ihm weder erobert noch unterjocht. Und das bleibt bitte so. Nach dem Kino auch noch das Fernsehen zu verlieren – das wäre inakzeptabel. Übrigens: Dass das Kinopublikum traditionelle Geschichten durchaus noch schätzt, zeigt sich immer wieder mal. So etwa im Überraschungserfolg der Michael-Connelly-Verfilmung «The Lincoln Lawyer». Das ist freilich auch Hollywood nicht entgangen. Und es gedenkt, darauf auf seine typische Art zu reagieren: mit «The Lincoln Lawyer 2».