Als David Lynch das Fernsehen revolutionierte

Mit der Frage «Wer tötete Laura Palmer?» ging heute vor 20 Jahren die TV-Serie «Twin Peaks» auf Sendung. Die Konsequenzen daraus sind im Fernsehen noch immer spürbar.

 

Von Sandro Danilo Spadini

«Sie ist tot – in Plastikplane gewickelt»: Mit diesen Worten setzte am 8. April 1990 ein popkulturelles Phänomen von kaum gekanntem Ausmass ein: die TV-Serie «Twin Peaks», kreiert von Fernseh-Routinier Mark Frost und Kino-Magier David Lynch, dem Zaren des Bizarren. Die Tote hiess Laura Palmer, und die Frage nach ihrem Mörder sollte in den folgenden Wochen und Monaten in den USA und später weltweit ein Millionenpublikum an die Mattscheibe fesseln. Schnell wurde klar, dass das mehr war als eine TV-Serie – «Twin Peaks» war eine Geisteshaltung und ein Gesamtereignis. Happenings wurden organisiert, das Merchandising-Geschäft blühte, am Arbeitsplatz wurde als Erstes über die letzte Folge diskutiert – kurzum: Seit der legendären «Dallas»-Cliffhanger-Frage «Who shot J.R.?» zog kein TV-Rätsel mehr so in Bann wie die Suche nach Laura Palmers Mörder.

Geschlossener Kosmos

Gelebt hat das Phänomen «Twin Peaks» aber nicht bloss von der Mordgeschichte. Denn «Twin Peaks» war nicht nur Whodunnit, sondern auch Seifenoper. Und das ganze Drama spielte sich in einem – bisweilen buchstäblich – raum- und zeitentrückten Kosmos ab, dessen Bestandteile samt und sonders exquisit waren: die Schauplätze mitten in der gewaltigen Natur mit dem geheimnistragenden Wald und dem 82 Meter hohen Wasserfall; die bald sphärische, bald jazzige Musik; die sprachliche Finesse; die Kostüme im Sechzigerstil; die stimmige Farbkomposition; das Dickicht aus Verweisen vornehmlich auf Hitchcock und den Film noir; der skurrile Humor; schwarzer Kaffee und kulinarische Köstlichkeiten; tanzende Zwerge, orakelnde Riesen, wissende Eulen und weisse Pferde in der Wohnstube – all das machte diese fremde und seltsame Welt aus. Und bevölkert wurde sie von einer Horde Spinnern unter Generalverdacht. Als moralischer Kompass und integere Integrationsfigur diente dabei der mit seinem Diktiergerät dauerkommunizierende und über Tibet referierende FBI-Agent Dale B. Cooper: Seine Ankunft im Washingtoner 50 000-Seelen-Ort nahe der kanadischen Grenze spiegelte unseren Eintritt in den Kosmos «Twin Peaks», und anders als die meisten Einheimischen war er nicht mordverdächtig.

Amerikanischer Albtraum

Die Spleens der Figuren trugen das Ihre zum Kultcharakter der Serie bei; ihre Geheimnisse wiederum dienten als Spuren bei der Mördersuche – und festigten den Ruf ihres Erfinders David Lynch, der Analytiker des kleinstädtischen amerikanischen Albtraums zu sein. Schon vier Jahre zuvor hatte sich Lynch in «Blue Velvet» sehr interessiert daran gezeigt, was hinter dem weissen Gartenzaun vorgeht, und Abgründe in einer vermeintlich heilen Welt aufgespürt, in der er selbst aufgewachsen war. «Twin Peaks» bot ihm dank des Serienformats nun die Möglichkeit, noch etwas genauer hinzuschauen. Und das tat Lynch in 6 Folgen als Regisseur und in den übrigen 24 Episoden als ausführender Produzent. Mitgebracht aus «Blue Velvet» nach Twin Peaks hatte Lynch auch seinen Hauptdarsteller. Kyle MacLachlan war nicht nur die Idealbesetzung für Special Agent Cooper, sondern auch ein waschechter Kinoschauspieler. Einen solchen fürs damals noch ziemlich verpönte Fernsehen zu gewinnen, war zuvor zwar schon anderen TV-Serien-Macher geglückt – man denke an dekorierte Mimen wie Barbara Bel Geddes in «Dallas», Rock Hudson in «Dynasty» oder Jane Wyman in «Falcon Crest». Doch waren es ehedem meist verwelkte Ikonen im Vorruhestand, die es zum Fernsehen verschlug. Auf vergessene Altstars setzte freilich auch «Twin Peaks», etwa die «West Side Story»-Recken Richard Beymer und Russ Tamblyn oder die dreifach Oscar-nominierte Piper Laurie, die als exaltierter Lokaltycoon, wirrer Psychiater und frostige Holzwerk-Chefin Säulen der Serien-Gesellschaft waren. Dass es niemand aus dem gut 30-köpfigen Stammensemble später (wieder) zu Kinoruhm brachte (siehe Box), mutet angesichts all der mimischen Höhenflüge seltsam an. Aber seltsam passt ja gut zu «Twin Peaks».

Von «X-Files» bis «Lost»

Nichts wurde auch aus den ersten Nachahmern von «Twin Peaks». Auf der von Frost und Lynch ausgelösten televisionären Revolutionswelle mit Erzählstruktur-Experimenten, Traumsequenzen und hohen Schauspieler- und Produktionsstandards versuchten einige zu surfen. Nicht alle scheiterten derart spektakulär wie das von Oliver Stone produzierte und Kathryn Bigelow mitinszenierte Prestigeprojekt «Wild Palms». Doch sollte es bis zu den «X-Files» dauern, ehe eine Serie zum Stadtgespräch wurde, die sich auf dem von «Twin Peaks» geebneten Terrain bewährte. Seither wird der Einfluss der nach 20 Jahren unvermindert stilbildenden Überserie freilich immer wieder evident, so in der Hit-Show «Lost», deren Erfinder J.J. Abrams ebenso erklärter «Twin Peaks»-Fan ist wie «The Sopranos-Chef David Chase.
 
«Als Zustand geniessen»

Geendet hat das Phänomen «Twin Peaks» am 10. Juni 1991 auf einer eher unstimmigen Note. Nachdem die zuvor noch kulanten Oberen des Senders ABC frühzeitig die Enthüllung von Laura Palmers Mörder erwirkt hatten, brachen auch die Einschaltquoten ein. Nach kurzem Durchhänger erreichte die Serie zwar wieder gewohntes Niveau; doch tauchte sie mehr und mehr ins Existenzielle und Paranormale ein, was von einer Mehrheit der (zusehends überforderten) TV-Zuschauer wenig goutiert wurde. Für die Hardcore-Fans wurde die Trauer über die Absetzung derweil dadurch gemindert, dass bereits ein Kinofilm angekündigt war, in welchem die letzten sieben Tage im Leben von Laura Palmer dokumentiert werden sollten. «Twin Peaks – Fire Walk With Me», der im Mai 1992 in Cannes Premiere feierte, wurde dann aber von der Presse verrissen. In der «Twin Peaks»-Community indes geniesst er – zu Recht! – einen exzellenten Ruf. Für den wie das Serienfinale nicht eben leicht verständlichen Film sollen denn auch jene Worte gelten, die der Filmpublizist Robert Fischer zur Serie schrieb: «‹Twin Peaks› ist eine Einladung an den Betrachter, sich auf ein Spiel einzulassen, dessen Ausgang die Erfinder anfangs selbst noch nicht kennen. Und nur der sammelt Punkte, der es lernt, ‹Twin Peaks› nicht als Fernsehserie zu konsumieren, sondern als Zustand zu geniessen.»

 


Was ist aus ihnen geworden?

Kyle MacLachlan (Agent Cooper): Seine Kinokarriere war nach den Monumentalflops «The Flintstones» und «Showgirls» bereits 1995 am Ende. Immerhin ergatterte er noch grössere Parts in «Sex and the City» und «Desperate Housewives».

Michael Ontkean (Sheriff Harry S. Truman): Der sympathische Sidekick von Dale Cooper musste sich nach «Twin Peaks» mit kleineren TV-Rollen begnügen.

Sheryl Lee (Laura Palmer/Maddy Ferguson): Sie spielte zunächst bloss die Leiche und in Rückblenden die lebendige Version Laura Palmers. Sodann erfand Lynch die Rolle von Lauras Cousine Maddy für sie – und besetzte sie im Film im Hauptpart. Zuletzt trat sie in der Serie «Dirty Sexy Money» auf.

Lara Flynn Boyle (Donna Hayward): Lauras beste Freundin lehnte einen Part im «Twin Peaks»-Film ab und schien später mit Rollen in «Happiness» oder «Men in Black II» zu einer Kinokarriere abzuheben. Letztlich landete sie aber wieder beim TV, in Serien wie «The Practice».

Sherilyn Fenn (Audrey Horne): Das verzogene Tycoon-Töchterchen erlebte schon 1992 eine Bruchlandung in dem von Lynchs Tochter Jennifer inszenierten Thriller «Boxing Helena». Es folgten Rollen in TV-Filmen und Gastauftritte in Serien wie «Gilmore Girls».

Frank Silva (Bob): Der Bühnenbauer kam durch puren Zufall zu seiner (Schlüssel-)Rolle in «Twin Peaks». Es blieb sein einziger Schauspielerjob. Silva starb 1995.

Mark Frost (Miterfinder): Der oft vergessene, aber mit Lynch gleichberechtigte «Twin Peaks»-Schöpfer zeigte sich vielseitig: Beim passablen Thriller «Storyville» (1992) führte er Regie; danach kreierte er mit Lynch die Miniserie «On the Air», schrieb drei Bücher, arbeitete wieder fürs TV und fabrizierte die Skripts der «Fantastic Four»-Kinofilme.

David Lynch (Miterfinder): Der Meisterregisseur inszenierte seit «Twin Peaks» nur noch vier Kinofilme. Seine Zeit vertreibt sich Lynch heutzutage mit Bildern, Musik, Ausstellungen, Internetkunst, seiner Kaffeelinie und weiss Gott noch was. Von sich reden macht er macht auch als Promotor der Transzendentalen Meditation – teils auch mit fragwürdigen Aktionen. Neue Filmprojekte stehen derzeit nicht an.