Die Erinnerung im Gepäck, die Erlösung im Visier

In «Wild» schickt Regisseur Jean-Marc Vallée seine imposante Hauptdarstellerin Reese Witherspoon auf einen monumentalen Selbstfindungstrip von Südkalifornien hinauf nach Washington.

 

von Sandro Danilo Spadini

1500 Kilometer in drei Monaten: Das ist zwar nicht ganz so üppig wie jener Marsch durch die westaustralische Wüste, den Mia Wasikowska unlängst im Trekker-Abenteuer «Tracks» unter die Füsse genommen hat. Dafür hat der Pacific Crest Trail, den Reese Witherspoon alias Cheryl Strayed in «Wild» bewältigt, landschaftlich mehr zu bieten. Und wahr ist auch diese Geschichte – was in der so «tatsachenliebenden» heurigen Preisverleihungssaison freilich nicht verblüfft. Eine der dort verteilten Trophäen hat Witherspoon, die hier auch als Produzentin waltet, zwar noch nicht gewonnen; ihr Porträt ist gleichwohl ungemein gewinnend und das einer Siegerin: Cheryl Strayed ist psychisch und physisch am Ende, als sie im Sommer 1995 in Südkalifornien aufbricht, um bis hinauf nach Washington in die Nähe der kanadischen Grenze zu wandern; als sie aber rund 100 Tage später im Ziel ankommt, hat sie alles erreicht, was es auf einem solchen Trip zu erreichen gibt: Sie steht am Start in ein neues Leben – und sie hat das gefunden, was sie natürlich in erster Linie gesucht hat: sich selbst.

Zwei Rucksäcke

Geschichten wie diese gibt es gewiss nicht wenige; und stets laufen sie bei aller Faszination für die Naturwunder und allem Respekt vor dem Martyrium Gefahr, ins allzu Gefühlige zu gleiten. Ein Glück also, sind die Schlüsselpersonen bei «Wild» sämtlich Leute, die ihre Emotionen üblicherweise im Griff haben: Hauptdarstellerin Reese Witherspoon mit ihrem patenten Südstaaten-Charme, der von britischer Ironie beseelte Drehbuchautor Nick Hornby und der kanadische Regisseur Jean-Marc Vallée, der zuletzt dem Aids-Drama «Dallas Buyers Club» einen schäbig nüchternen Realismus angedeihen liess. Selbiges tut Vallée nun auch hier in der Adaption von Cheryl Strayeds Memoiren von 2012 – nicht zuletzt in den Rückblendenfetzen, die er seiner Heldin auf ihrem Weg über Stock und Stein immer wieder auf den Hals hetzt. Was wir hier sehen, wiegt noch ungleich schwerer als der enorme Rucksack, den sie jeweils nur mit Mühe zu schultern vermag. Es sind das Nadelstiche in ein einsames Herzen, Feuerfunken auf eine geschundene Seele; sie erzählen von Tod und Krankheit, Gewalt und Trennung und einem wahnhaft-bodenlosen Rausch aus Sex und Drogen, in dem sich Cheryl nach dem Krebstod ihrer Mutter (umwerfend: Laura Dern) verliert. In der Schilderung dessen kommt freilich auch dem Film bisweilen ein wenig die Orientierung abhanden: Statt mit Cheryl die letzten Meilen zu gehen, stöbert Vallée auch dann noch in diesem zweiten Rucksack, wenn eigentlich längst alles ausgepackt ist. Man kann das aber verschmerzen. Und verstehen kann man es auch. Schliesslich sind die fundamentalen philosophischen Entdeckungen,  die sich aus solch einer Geschichte noch herauspressen lassen, ebenso limitiert wie die revolutionären filmischen Strategien. Denn das Terrain mag zwar weitläufig sein; die Handlungsparameter aber sind umso enger.  

«Was zum Teufel…»

Etwas Abwechslung tut also not, und dafür ist nicht nur die grandios vielfältige Landschaft da. Wie stets, wenn jemand eine (Film-)Reise tut, sind es die unterwegs gemachten Bekanntschaften, die Salz in den Proviant streuen. Sheryl macht ein, zwei unliebsame: mit einer Schlange etwa oder zwei besoffen geilen Hinterwäldlern. Und wie einst der Held in Sean Penns verwandtem Wunderwerk «Into the Wild» viele erfreuliche, die ihr den Spitznamen «Königin des Pacific Crest Trail» einbringen: weil sie so vielen spendablen Menschen begegnet sei, die sie hofiert hätten. Das selbstverständlich ist eine unbillige Schmälerung einer blut-, schweiss- und tränentriefenden Willensleistung, deren Ausmass Vallée und Hornby denn auch nie infrage zu stellen gedenken. Vielmehr lassen sie schon am ersten Tag des Trips in der Mojave-Wüste in Sheryls Kopf ein «Was zum Teufel…» aufstöhnen; später wird sie klagen: «Mir tut ständig alles weh»; und auf halber Strecke wird sie einfach nur in die Natur hinausschreien. Diese Szene hat Vallée an den Beginn seines Films gesetzt. Es ist noch kein trotziger Urschrei; es ist die bare Verzweiflung einer blutigen Anfängerin. Und trotzdem ist einem nicht bange: Sie wird das schaffen.