von Sandro Danilo Spadini
In der allerersten Minute von «Tyrannosaur» hat
Joseph (Peter Mullan) bereits 15 Mal das F-Wort benutzt und seinen Hund zu Tode getreten. Man müsste meinen, dass wir es in den nächsten neunzig Minuten mit einem richtigen Mistkerl zu tun
bekommen werden. Als ein Rassist, ein Säufer, ein Choleriker stellt sich dieser arbeitslose verwitwete Mittfünfziger dann bald auch heraus – und als ein elender Tyrann: so wütend, so unendlich
wütend, und so traurig, so sagenhaft traurig. Bei alledem ist er freilich noch eine der sympathischeren Figuren im Regiedebüt des britischen Schauspielers Paddy Considine («The Bourne
Ultimatum»). Denn umgeben ist Joseph von Proleten, Halbstarken und Asozialen, die diesen nicht näher bestimmten Unort im Norden Englands noch unwirtlicher machen, als er es ohnehin schon ist.
Aber dann ist da auch noch Hannah (Olivia Colman): eine gläubige Christin aus begüterten Verhältnissen, die in einem Wohltätigkeitsladen ihren Frondienst tut und Joseph beim ersten zufälligen
Zusammentreffen mit einem Gebet zu trösten sucht. Ernten wird sie für ihre Nächstenliebe zwar erst mal nur Hohn und Spott und eine Suada von erbarmungslos verletzenden Unflätigkeiten. Doch
alsbald spriessen die ersten Zweige einer komplizierten Freundschaft; und wenn Joseph erkennt, dass Hannah mit ihrem sadistischen Ehemann (Eddie Marsan) mindestens so gestraft ist wie er,
verkehren sich mehr und mehr die Vorzeichen – wobei indes fraglich bleibt, ob Joseph wirklich zum Retter taugt.
Trist, hart, brutal
«Tyrannosaur» ist eines dieser furchtbar deprimierenden Dramen in der britischen Kinotradition des sozialen Realismus, wo alles schlecht, trist, krass ist; wo alle sich hassen, prügeln,
demütigen; wo die Menschen sich verirrt, sich vergessen, sich verloren haben. Es braucht Kraft und Ausdauer oder sehr schlechte Laune, um sich so etwas anzuschauen. Und am Ende ist man ausgelaugt
und resigniert. Allerdings wird man meist auch belohnt und hier besonders: nicht nur mit packenden Parforce-Performances der beiden gestandenen Hauptdarsteller, sondern ebenso mit der erstaunlich
abgeklärten Präzision des unerfahrenen Regisseurs, der auch das Drehbuch verantwortet. Zur Grundlage seines Kinoerstlings hat Considine seinen eigenen Kurzfilm «Dog Altogether» aus dem Jahr 2007
genommen. Und vorgenommen hat auch er sich, einen ungeschminkten Blick auf die Realität der britischen Unterschicht zu werfen. Was er in seinem fast farb-, fast sonnenlosen Film zeigt, ist dann
eine bisweilen willkürlich anmutende Abfolge stets neuer Brutalitäten und Bestialitäten – eine Kaskade von intimster Gewalt und erschütterndster Unmenschlichkeit, zwischen die sich aber auch
Momente erschütternd intimer Menschlichkeit schieben. Geredet wird dabei in dürren Hauptsätzen oder kargen Satzfragmenten, wenn nicht gerade geflucht oder gebrüllt wird. Gekrächzt werden Worte
wie «Ich bin ein verdammter Arsch» oder «Ich weiss nicht, was los ist mit mir». Und gefleht wird um Erlösung und den Ausweg aus dem inneren Gefängnis.
Kein Lehrstück
Doch ist das auch die anvisierte Realität? Hoffentlich nicht. Vielleicht schon. Jedenfalls liegt bei Filmen von solcher Intensität immer auch der Verdacht des scheinheiligen Voyeurismus in der
verpesteten Luft; selbst Ken Loach und Mike Leigh, die beiden Altmeister dieser urbritischen Disziplin, haben sich schon dahin gehende Verfehlungen geleistet. Hier bei Considine freilich
überwiegt insgesamt das Gefühl, dass sich der Strippenzieher auch wirklich um seine Figuren schert: dass er aufrichtig ist mit ihnen und mitfühlt, statt sich an ihrem Elend zu ergötzen und sie
blosszustellen. Geholfen ist Joseph und Hannah und all den anderen kaputten und vielleicht nicht mehr zu rettenden Typen von «Tyrannosaur» damit aber kaum. Denn es gibt hier keine Moral der
Geschichte, kein reinigendes Gewitter, keinen Silberstreifen am Horizont und noch nicht einmal eine erhellende Botschaft. Und so fragt man sich am Ende des Regentages und des Trauerspiels, was
Joseph und Hannah nun denn sind: Erlöst? Oder einfach nur erschöpft?