Der Kommerz mit dem Schmerz

Die Netflix-Produktion «Pain Hustlers» will vieles sein: Underdog-Story, Wirtschaftssatire, Lehrstück über die Anfänge der Opioid-Krise. Freilich ist sie bei alledem bloss die Karaoke-Version anderer, besserer Filme, in der lediglich die überragende Hauptdarstellerin Emily Blunt den Ton trifft.

Netflix

von Sandro Danilo Spadini

Um zu ermessen, wie kaputt und moralisch bankrott der Kapitalismus ist und wie fasziniert die Amerikaner vielleicht gerade deshalb noch immer von dieser ihrer zweiten und wahren Religion sind, reicht ein Blick auf den jüngeren Output der Film- und Fernsehindustrie, auf all die Sagas über Verbrechen im Namen des Mammons. Natürlich hatte schon die Jahrhundert-Soap «Dallas» in den Achtzigern die «Arschloch-Seite» des Kapitalismus adressiert, wie es J.-R.-Ewing-Darsteller Larry Hagman einst so nett ausdrückte – was womöglich erklärt, weshalb die Serie auch in der Sowjetunion derart populär war. Als Systemkritik indes konnte man das noch nicht auslegen; die kam später, sehr viel später, dafür mit umso heftigerer Wucht: in Meisterwerken wie Martin Scorseses «The Wolf of Wall Street» oder der so komischen wie komplexen Satire «The Big Short», wo dem finanzkrisengeschüttelten und hinreichend desillusionierten Publikum in aufreizender Ausführlichkeit und mit gruseliger Faszination die perversen Mechanismen aufgefächert und aufgeschlüsselt wurden, die fast zum globalen Wirtschaftskollaps geführt hatten, und der Volkssport des Strebens nach Reibach und Reichtum als toxisches Gemisch aus Gier und Grössenwahn entlarvt wurde. Und als die Serie von Wirtschaftsskandalen auch danach einfach nicht abreissen wollte und die USA einen Schlawiner und Scharlatan zum Präsidenten gewählt hatten, schienen die Amis erst recht angefixt zu sein von «True White-collar Crime», von diesen kaum zu glaubenden, nicht zu fassenden Antiheldengeschichten über Halunken und Hochstapler, selbst ernannte Gurus und vermeintliche Wirtschaftswunderkinder wie Elizabeth Holmes («The Dropout»), Adam Neumann («WeCrashed») oder Mike Lazaridis («BlackBerry»), die sich doch so sehr ähneln in ihren über himmelhochgejazzte Aktienkurse und zu Tode geschwindelte Bilanzen ekstatisch eskalierenden Etappen auf dem Weg vom kometenhaften Aufstieg zum sehr weltlichen Fall.
 
Mit Bauernschläue nach oben
 
Und jetzt kommt also «Pain Hustlers» – und das nicht nur wie die alte Fasnacht hinterher, sondern auch noch reichlich spät zur Party. Zum einen nämlich wirkt diese schnöde Netflix-Produktion wie die Karaoke-Version der angesprochenen Meisterwerke; zum anderen kreist sie um ein Thema, das zuletzt ausführlich und weit fundierter filmisch beleuchtet wurde: die Anfänge der Opioid-Krise, denen Miniserien wie «Dopesick» und «Painkiller» oder Dokus wie «The Crime of the Century» und «All the Beauty and the Bloodshed» nachgegangen sind. «Pain Hustlers» möchte mithin à la «The Wolf of Wall Street» den Exzess zelebrieren und wie «The Big Shot» die verworrenen wirtschaftlichen Zusammenhänge in humorvoller Art auf eine verständliche Ebene herunterbrechen, dabei aber auch ein Lehrstück über die monumentale Katastrophe sein, die über Amerika hereingebrochen ist. Doch damit nicht genug: Der Zweistünder von «Harry Potter»-Regisseur David Yates schickt sich obendrein noch an, eine Underdog-Story im Stil von «Erin Brockovich» zu erzählen. Und das ist nun wirklich ein bisschen viel auf einmal und definitiv mehr, als der seit fast zwei Jahrzehnten im Fantasybereich tändelnde 60-jährige Engländer bewältigen kann – denn «Harry Potter» ist das nicht. Es ist das, basierend auf einem Artikel im «New York Times Magazine» und dem daraus entstandenen Buch von Evan Hughes, die Geschichte von Liza Drake (Emily Blunt), einer fiktiven alleinerziehenden Mutter aus Florida, die wir im Jahr 2011 als Stripperin mit dem Bühnennamen Destiny kennen lernen und alsdann auf ihrem bauernschlauen Aufstieg begleiten, der sie aus der Garage der Schwester in die Chefetage des Pharmakonzerns Zanna führen wird. Zanna, gegründet und geleitet vom kauzigen Arzt Jack Neel (Andy Garcia), ist zwar eine ebenfalls fiktive Firma, doubelt aber kaum verhüllt das Unternehmen Insys, das mit seinem Fentanyl-Spray Subsys (der hier Lonafen heisst) Abermillionen gescheffelt und Abertausende abhängig gemacht hat. Zu dem zunächst noch schlingernden Start-up gelockt wird Liza vom wuselig-wieseligen Verkäufer Peter Brenner (Chris Evans), der sie in seinem Handy als «Strip Club Chick» abgespeichert hat – und zwar mit Verheissungen, die anfangs völlig illusorisch klingen, die nach dem Durchbruch von Lonafen aber pulverisiert werden, sodass Liza, die die Highschool nach zwei Jahren abgebrochen hat, in Sphären katapultiert wird, von denen sie zuvor nicht mal wusste, dass sie existieren. «Das ist meine Geschichte», sagt sie zu Beginn aus dem Off. «Ich habe es aus den richtigen Gründen getan.» Brenner hingegen findet in einem dieser billig anmutenden Schwarzweissinterviews, die in restlos unsinniger und unstimmiger pseudodokumentarischer Absicht dem Film beigefügt sind, Liza habe sich einen Scheissdreck um andere geschert. Und er will auch festgehalten haben: «Wir haben Amerika nicht umgebracht.» Schliesslich sei Lonafen sicherer als Aspirin, das Risiko einer Abhängigkeit betrage nicht mal 1 Prozent, und überhaupt sei das «ein Geschenk und ein Segen». Dass das Mittel für Patienten mit Krebs im Endstadium entwickelt und bewilligt und aus Umsatzwachstumsgründen dann am Ende sogar gegen Migräne verschrieben wurde – darüber möchte er sich nun nicht weiter auslassen. Bloss so viel: «Schmerz ist Schmerz.»
 
Déjà-vu im Discount-Look
 
Selbstredend irrt der Mann – auch darin, dass sich Liza um niemanden gekümmert habe. Schliesslich ordnet sie ihr ganzes zweifellos fragwürdiges Tun dem Wohl ihrer Tochter unter, die einen Tumor im Kopf hat, der eines Tages eine monströs teure Operation nötig machen wird. Ein solches Los bringt ihr natürlich einiges Wohlwollen ein; und weil sie sich hier als einzige Person erweisen wird, die immerhin noch weiss, wo sie den moralischen Kompass gerade versteckt hat, schafft es Liza zum Ende hin sogar bis zur Sympathieträgerin hinauf. Dass bei der Zeichnung ihrer Figur Grautöne zugelassen werden, muss man dem Film ohne Murren zugutehalten; und dass Emily Blunt das von der ersten bis zur letzten Minute mit einem Engagement spielt, als ob sie sich für einen Oscar empfehlen möchte – das ist das einsame Highlight von «Pain Hustlers». Es ist das aber auch ein bisschen die Krux – zumal Blunt nichts weniger als einen Klassenunterschied zu ihren Mitstreitern demonstriert, die allesamt eher eintönig agieren. Derweil Chris Evans dabei noch mit Charisma punkten kann, bleibt der Rest blass oder blamiert sich gar wie der einfach nicht zum Spektakelschauspieler prädestinierte Andy Garcia. Und auch Regisseur Yates hat erhebliche Mühe, die Balance zu finden. Da werden Zoten und Possen gerissen, was das Zeug hält; und trotzdem vermag das kaum je einen Lacher zu entlocken. Überhaupt fragt sich: Ist das denn lustig hier – dass da ein Haufen von Schmierlappen und Schwachköpfen all diese unbescholtenen Bürger zu Drogenzombies gemacht hat? Mit anderen Worten: Ist dies das richtige Format, ist das der richtige Ton, diese von schmissiger Rockmusik unterlegte und nach eigenen Angaben an dem Ganovenstück «American Hustle» orientierte Augenzwinkerei, mit der die halt so ganz und gar nicht harmlosen Schlaumeiereien in Szene gesetzt werden? Der Rest ist dann sowieso Déjà-vu in dem für Netflix-Produkten typischen Discount-Look: Zeitlupen-Montagen von dekadenten Gelagen mit ulkig gewandeten und kurios frisierten Typen, hässlichen Heinis und giftigen Tussis, die high sind vom über sie kommenden Rubelrollen; verwüstungsreiche Ausraster und exzentrische Zuckungen; vom Erfolg tollwütig gewordene gottgleich verehrte Chefs, die zu ihren vor Geldgeilheit blindwütig tobenden Lakaien und Lemmingen idiotische Parolen wie «Uns gehört Krebs» skandieren; und noch höher abgehobene koksende Kasper und widerwärtige Wichte, die sich auf einer Bühne zum Affen machen, ohne es zu checken. All das, und zwar wirklich alles, hat man schon anderswo besser gesehen; und weil sich Yates dabei eher plump um einen knackigen Stil bemüht und die Budgetrestriktionen immer ein bisschen ungünstig durchscheinen, will der Funke von Glamour und Exzess erst recht nicht springen. Den Garaus macht dem Film schliesslich, dass er so wenig Erhellendes zur Opioid-Krise zu sagen hat. Dass sie aus rücksichtsloser Gier erwachsen ist, darf zwar immer wieder gerne wiederholt werden – es wird diesem mittlerweile allgemein bekannten Fakt hier aber kein neuer Aspekt hinzugefügt. Und dass sie unendliches Leid verursacht, geht im sich gegen Ende hin glättenden Tumult lobenswerterweise wohl auch nicht unter – die Handvoll gut gemeinter Szenen, die dem Leid ein menschliches Antlitz geben wollen, erzeugen aber nicht die eisige Wirkung, die sie sollten. Und so ist das am Ende ein Scheitern auf allen Ebenen – ein Scheitern zudem, das nicht mal wirklich beklagenswert ist. Schaut man sich eben einfach noch einmal eines der vielen Vorbilder an, die das alles so viel geschickter gemacht haben.