Ein allzu glückliches Händchen bei der Rollenwahl hat Johnny Depp in den letzten rund zehn Jahren weiss Gott nicht bewiesen. Neben ein paar Gastauftritten, einem weiteren «Pirates»-Aufguss und
weiterer typischer Kindereien sowie der hochklassigen Mafiabiografie «Black Mass» leistete er sich eine höchst stattliche Anzahl monumentaler künstlerischer wie kassentechnischer Flops: von «Lone
Ranger» über «Mortdecai» bis «London Fields». Umso unglücklicher ist es, dass einer seiner raren Lichtblicke noch vor Kinostart auf unbestimmte Zeit in die Versenkung verbannt wurde: In Brad
Furmans Thriller «City of Lies» wird nicht
nur auf überaus kompetente Weise eine saftige Verschwörungstheorie zur Ermordung des Hip-Hop-Stars Notorious B.I.G. im Jahre 1997 gesponnen; Depp zeigt darin in der Rolle des LAPD-Detective, der
den Fall auch nach seiner Entlassung aus dem Dienst nicht ruhen lassen kann, überdies eine seiner besten Leistungen der letzten Zeit. Leider aber soll sich Depp am Set von einer weniger guten
Seite präsentiert haben: Bei einem Disput mit einem Crewmitglieder soll ihm mehrmals die Hand ausgerutscht sein, worauf das mutmassliche Opfer Klage nicht nur gegen Depp, sondern auch gegen
Furman und die Produktionsgesellschaft einreichte. Aus Sorge vor schlechter Publicity strich der Verleiher daraufhin recht kurzfristig den für 22. September 2018, den 22. Todestag von
Hip-Hop-Superstar Tupac Shakur, angesetzten Kinostart, ohne je ein Ersatzdatum festzulegen. So zumindest die offizielle Version.
Hinter vorgehaltener Hand (und in durchaus renommierten Blättern) heisst es freilich, die Klage gegen Depp sei nur ein Vorwand. In Tat und Wahrheit seien es jene Parteien, die im Film schwer
belastet werden, die eine Veröffentlichung unterdrückten, nicht zuletzt das Los Angeles Police Department. Eine Verschwörung also um einen Verschwörungsthriller! Wie dem auch sei: In Italien
jedenfalls kam der Film trotzdem ins Kino; die DVD ist mittlerweile auch erschienen. Und so lässt sich nun trotzdem mit eigenen immer wieder verwundert geriebenen Augen bestaunen, was laut
Regisseur Furman und dem Journalisten Randall Sullivan, auf dessen Buch «LAbyrinth» der Film basiert, denn so alles vertuscht und gemauschelt wurde in der Mordsache Notorious B.I.G. Nicht nur von
der Faktenfülle her, sondern bisweilen auch stilistisch angelehnt an Genremeilensteine wie Oliver Stones «JFK» oder Michael Manns «The Insider», erzählt «City of Lies» vom oft einsamen Kampf des
inzwischen pensionierten Polizisten Russell Poole (Depp) und des Journalisten Jack Jackson (Forest Whitaker), die sich fast 20 Jahre nach dem Mord erstmals begegnen und den spektakulären und bis
heute ungeklärten Fall nochmals neu aufrollen. Während Jackson einst der Theorie anhing, die Ermordung stehe im Zusammenhang mit der Ostküste-vs.-Westküste-Hip-Hop-Fehde und sei eine Vergeltung
für den gewaltsamen Tod Tupac Shakurs, verfolgt Poole seit je eine noch weiter gehende These: Korrupte Beamte des LAPD sollen im Auftrag des Hip-Hop-Produzenten Suge Knight in den frühen
Morgenstunden des 9. März 1997 vier Schüsse auf Christopher Wallace aka Notorious B.I.G. abgegeben haben. Furman schildert dieses Spekulieren und Theorisieren, dieses Buddeln und Ermitteln mit
grossem Respekt für die Fakten und wenig Liebe für Brimborium; und um die Sache noch ein bisschen zu komplizieren und das Publikum weiter zu fordern, tut er das mit einem recht ruppigen Hin und
Her zwischen den beiden Zeitebenen – dies aber immerhin unter Gewährung eines visuellen Hilfsmittels, indem er die Szenen aus den späten Neunzigern gelblich und jene der Nuller grünbläulich
einfärbt. Johnny Depp vertraut beim Zeitenwandel und dem damit einhergehenden Altern seiner Figur derweil ganz auf seine gewiss üppige mimische Begabung. Und das ist vermutlich das grösste
Ereignis in diesem Film, der den aufmerksamen, geduldigen Zuschauer belohnt und sehr wohl als weitere Talentprobe von Regisseur Brad Furman («The Lincoln Lawyer», «The Infiltrator») zu werten
ist.