Freies Land

 

Zwei Horrorfilme in Hollywood, ein Fernsehfilm, eine vier- und eine zehnteilige TV-Serie, sieben «Tatorte» mit den Kommissaren Tschiller und Borowski sowie sechs deutsche Kinofilme: Nein, der mittlerweile 46-jährige hessische Regisseur Christian Alvart hat sich seit seinem fulminanten Durchbruch mit dem Thriller «Antikörper» vor anderthalb Jahrzehnten wahrlich nicht auf seinen Lorbeeren ausgeruht. Dass es bei dieser halsbrecherischen Kadenz auch zu gewissen Formschwankungen kommt, liegt da quasi auf der Hand und nimmt man Alvart auch nicht weiter krumm, wenn dabei wie zuletzt wieder vermehrt solch überdurchschnittliche Krimikost herauskommt wie der virtuos choreografierte gesellschaftskritische Actioner «Steig. Nicht. Aus!», die düstere Sebastian-Fitzek-Adaption «Abgeschnitten» oder das auch zeithistorisch spannende Mörderrätsel «Freies Land». Wie Ersterer ist auch Letzteres eine Neuverfilmung eines spanischen Erfolgsfilms und damit voll im recht neuen Trend der innereuropäischen Remake-Verwertung: «La isla minima» hiess dieses Genrejuwel aus dem Jahr 2014, dessen Geschichte um das Verschwinden zweier Schwestern im Teenageralter Alvart für «Freies Land» vom südspanischen Marschland in ein Küstenkaff in Mecklenburg-Vorpommern verlegt hat.

Alvarts eine runde halbe Stunde länger geratenes Remake hält sich dabei recht eng an die Vorlage, ist mindestens so packend erzählt, ebenso hoch atmosphärisch inszeniert und übertrumpft diese gar, indem es den Figuren den einen oder anderen zusätzlichen Schliff verleiht und so gerade die beiden Hauptdarsteller zu zweischneidigen und mehrschichtigen Charakteren formt. Was «Freies Land» zu einem nicht nur überaus mitreissenden, sondern auch relevanten Kinoerlebnis macht, ist aber dessen zeitliche Verortung mitsamt den daraus abzuleitenden politischen und sozialen Implikationen: Es ist das Jahr 1992, als Kommissar Stein (Trystan Pütter) aus dem Westen in den Nordosten Deutschlands fährt, um seinem trinkfesten und nach wie vor mit fragwürdigen (Stasi-)Methoden operierenden Kollegen Bach (Felix Kramer) bei den Ermittlungen zu einem potenziellen Serienmörder-Fall unter die Arme zu greifen. Die Euphorie über die Wiedervereinigung ist in den neuen Bundesländern längst verflogen, die «blühenden Landschaften» sind ein Hirngespinst, die Wirtschaft liegt in Trümmern, und die Menschen wollen nur eins: weg von hier. Es ist eine kaputte Gesellschaft mit vom Leben verschlissenen kleinen Leuten, verrückten und versoffenen Vögeln und skrupellosen Raubrittern in Westkarossen, die Alvart hier, in seiner fraglos besten Arbeit seit «Antikörper», mit gewohnt schonungslosem Blick und bisweilen ebenso typischen Abstechern ins Reisserische zeigt. Und es ist eine unversöhnliche, ganz und gar unromantische Geschichte, die weder Sympathieträger noch Erlösung anbietet – und die gerade deshalb durch Mark und Bein geht und sich im Gedächtnis einnistet.