Es war einmal in Napoli

Das Drama «Nostalgia» hat zwei zutiefst faszinierende Hauptdarsteller: den italienischen Superstar Pierfrancesco Favino. Und die rau und ruppig pulsierende Stadt, in die seine Figur nach 40 Jahren im Ausland zurückkehrt.

Pierfrancesco Favino im Film Nostalgia

Xenix

von Sandro Danilo Spadini

Er rede komisch, finden die Leute hier. Und ein Wunder ist das natürlich nicht. Denn Felice (Pierfrancesco Favino) war lang nicht da, lange weg, 40 Jahre in Übersee. Libanon, Südafrika, Kairo schliesslich. Mit 15 ging er fort, nachdem er in Schwierigkeiten geraten war, so wie sie hier nun mal oftmals Probleme kriegen. Mit dem Gesetz. Oder mit jenen, die dieses brechen. Aber nun ist er also wieder da, daheim in Napoli, im Quartier La Sanità. Die greise Mutter strebt ihrem Ende entgegen. Und deshalb hat sich Felice aufgemacht in die Heimat, die er damals so überstürzt verlassen hat. Hat die Frau und die Firma und die Kultur und Allah und die Villa am Meer zurückgelassen. Und taucht nun ein in seine Vergangenheit. Streift einen vollen Tag und eine halbe Nacht scheinbar ziellos durch die Stadt seiner Kindheit und Jugend, bevor er die Mamma aufsucht in ihrer tristen Bleibe. Isst Pizza. Raucht auf dem Balkon. Und lässt seinen Blick wandern und seine Gedanken schweifen. Zurück in eine Zeit, als alles noch einfach war. Bis es dann eben so schwierig wurde, so brenzlig, lebensgefährlich sogar. Und auch wenn das alles schon ewig her ist: Es lässt ihn nicht los. Es ist eine offene Rechnung, die er nun endlich begleichen möchte. Mit seinem besten Freund von damals, seinem Bruder quasi. Oreste (Tommaso Ragno) jedoch sei nun der Schlimmste von allen, sagen sie ihm. Ein blindwütig gewalttätiger Mann. Drogen, Prostitution, Mord. «’O Mal’omm» nennen sie ihn, den bösen Mann. Und der will nichts wissen von Felice. Lässt dessen eben erst erworbenes Mofa abfackeln und in der angemieteten Wohnung eine klare Botschaft zurück: «Scompar», verschwinde! Aber Felice ist hier, um zu bleiben. Er wolle nicht verschwinden, sagt er dem patenten Priester Luigi (Francesco Di Leva), der nach dem Trauergottesdienst für die Mamma so etwas wie ein Freund geworden ist. Sagt er allen, die es hören wollen. Die nichts davon hören wollen. Die ihm raten, nach Hause zu gehen. Napoli sei sein Zuhause, sagt Felice dann. Und dieses Napoli lernt er gerade wieder kennen auf seinen Streifzügen durch die Gassen der Vergangenheit, entdeckt es wieder beim Wandeln auf den Spuren eines lang abgeschlossenen, halb vergessenen Lebens, gibt sich ihm hin auf diesem so nostalgischen Seelentrip. Der Sprache, den Menschen, den Riten und Bräuchen. Die Stadt, laut und lärmig, rau und ruppig, schäbig und schmutzig und bei alledem wunderschön, diese Stadt, seine Stadt – sie saugt ihn mit Haut und Haaren, Leib und Seele auf. Und er lässt es geschehen.
 
Leiser Film in lauter Stadt
 
Und auch wir lassen es gerne geschehen, dass uns diese Stadt in ihren Bann zieht in dem in Cannes uraufgeführtem Drama «Nostalgia» des Routiniers Mario Martone, ein Neapolitaner wie der 2016 verstorbene Schriftsteller Ermanno Rea, von dem die Vorlage stammt. Denn lange dauert es nicht, bis wir in ihr drin sind; und nachdem sie uns erst mal verschlungen hat, will sie uns auch nicht mehr wieder hergeben. Schon der wortkarge Auftakt hat seinen herben Charme. Und es deutet sich da schon an: Dies ist ein leiser Film in einer lauten Stadt. Oder vielleicht besser: über eine laute Stadt. Ja richtig intim wird es bisweilen. Etwa wenn Felice die gebrechliche Mutter dazu überreden kann, sie in der Wanne zu waschen, was ihm deutlich weniger Mühe bereitet als ihr. Das sind Momente von bestürzender Zartheit, von beklemmender Schönheit. Und auch als die Mutter dann stirbt und sich das Geschehen fast vollständig raus in die Stadt verlagert, bleibt das eine feine Sache, eine Art Zwiegespräch mit der Umgebung, mit der Erinnerung des Protagonisten, der zwar Felice heisst, meist indes mehr traurig denn glücklich wirkt. Da sind die von nostalgischer Retro-Optik überzogenen Rückblenden, in denen nach und nach Felices Hintergrund aufgefächert wird. Und da sind später dann vor allem die Begegnungen mit den Menschen: mit jenen, die ihn noch von früher kennen und an die er sich kaum zu entsinnen vermag; und, noch bereichernder, mit den Schäfchen von Pater Luigi: einfache, brave Leute, so gastfreundlich und hilfsbereit, die sie bei sich zu Hause aufsuchen, um ihnen Mut zu machen, und deren Söhnen und Töchtern Luigi in der Kirche ein Obdach bietet, eine Zuflucht gleichsam, einen Schutz vor den sündigen Verlockungen und ihren Fürsprechern, die hier an jeder Ecke lauern und einen zu sich nach unten zerren wollen, in den Sumpf. Dorthin, wo Felices alter Freund Oreste den Ton angibt.
 
Das wache Auge der Kamera
 
Ferne Erinnerungen seien wie Geister, sagt Pater Luigi einmal zu dem von der Vergangenheit gefangen gehaltenen Felice. Und diese Geister, sie schweben auch über dem Film und hüllen ihn ein in eine latente Traurigkeit, eine Sehnsucht vielleicht auch nur, nach dem Früher, nach dem letzten Moment der Unschuld. Der Sog, den «Nostalgia» so entwickelt, wäre freilich noch etwas kräftiger, wenn Martone weniger Mühe mit dem Rhythmus bekunden würde, wenn das mithin ein wenig flüssiger abliefe, eleganter, geschmeidiger. Auch tonal könnten diese fast zwei Stunden stimmiger sein – die fast kahl naturalistischen ruhigen Sequenzen einerseits und die nach der erzählten Zeit stilisierten Rückblenden und die dramatischeren Nachtszenen andererseits dürften noch dichter verwoben sein. Was das Ganze gleichwohl zusammenhält, ist die stupende Kameraarbeit von Paolo Carnera («Suburra»): aufmerksam und sehr beweglich. Und es ist Pierfrancesco Favino, der zweite Hauptdarsteller dieses Films neben der Stadt Napoli. Der viel beschäftigte Superstar des italienischen Kinos («Gli anni più belli», «Il traditore»), ein Römer notabene, zeigt sich hier von einer selten sensiblen Seite: versehrt und verletzlich. Bisweilen ist sein Felice auch verstört ob dem, was sich da um ihn herum in seinem verbrechensverseuchten Viertel abspielt, verängstigt ob dem, was ihn auf seinem Weg erwartet. Gleichzeitig ist er felsenfest überzeugt von diesem Weg. Sieht keine Alternative. Er will das machen, was richtig ist. Was er längst hätte tun sollen. Er will Napoli, seine Stadt, für sich zurückerobern. Die Geister verscheuchen. Und die Nostalgie abstreifen.