Der Club der verlorenen Mädchen

In erster Linie dank ausgezeichneter Darstellerinnen und hervorragender Dialoge ist der kanadisch-schweizerischen Regisseurin Léa Pool mit dem Drama «Lost and Delirious» ein äusserst bemerkenswerter Film gelungen.

 

von Sandro Danilo Spadini

Nein, es sind nicht bloss die Tücken des Erwachsenwerdens, um die es Léa Pool («Emporte-moi») in ihrem ersten englischsprachigen Film geht. Tod, Freundschaft, Familie, die Freuden und vor allem die Grausamkeiten der Liebe: Dies und nichts weniger sind die Themen von «Lost and Delirious» – einer Art «Club der toten Dichter» im Mädcheninternat. Die filmische Umsetzung dieser so grossen wie ewigen Themen ist aufgrund des langsamen Erzähltempos und einiger mystischer Elemente eher unkonventionell, dabei aber jederzeit sehr eindringlich und überaus sensibel geraten.

Verstört und verzweifelt

Im Mittelpunkt von «Lost and Delirious» stehen drei erstaunliche junge Mädchen: die zurückhaltende Mary (Mischa Barton), die liebenswerte Tory (Jessica Paré) und die aufmüpfige Paulie (Piper Perabo). Mary, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird, findet sich als Neuankömling im Internat in einer für sie völlig fremden Welt wieder. Bald findet sie heraus, dass ihre Zimmergenossinnen Tory und Paulie mehr als bloss eine innige Freundschaft verbindet. Als das lesbische Verhältnis aufzufliegen droht, beendet Tory aus Angst vor ihrer konservativen Familie die Beziehung. Besinnungslos verzweifelt ob dieses Liebesentzugs, verfällt Paulie allmählich dem Wahnsinn, und das Drama steuert in Zeitlupentempo unaufhörlich auf die finale Katastrophe zu.

Kraftvoll und intensiv

Selten zuvor wurde auf der Leinwand das eiskalte, nackte, namenlose Entsetzen, welches auf eine jäh zerstörte Liebe folgt, plastischer und bewegender geschildert als in «Lost and Delirious». Léa Pool lässt sich sehr viel Zeit bei der Darstellung dieses Entsetzens, der Wut, der Verzweiflung, wodurch sie eine derartige Kraft und Intensität erzeugt, dass einem das Blut in den Adern zu gefrieren droht. Fast immer trifft sie den richtigen Ton – ob in den stillen Szenen oder in denjenigen, in welchen das zutiefst erschütterte Innenleben von Paulie mit brachialer Gewalt nach aussen durchbricht. Die unaufgesetzt wirkenden, intelligenten, mit Shakespeare-Rezitationen angereicherten Dialoge und eine Oscar-reife Parforceleistung von Piper Perabo sind schliesslich die alles entscheidenden Garanten für die erfolgreiche Übermittlung der Botschaft: Dies ist die endlos finstere Nacht für Paulies Seele. Alleine Piper Perabo («Coyote Ugly») aus dem Trio der Hauptdarstellerinnen herauszuheben, wäre allerdings ungerecht. Auch Mischa Barton, welcher, als sie einen Brief an ihre verstorbene Mutter vorträgt, vielleicht die schönste Szene des gesamten Films gehört, und die ungeheuer charismatische Jessica Paré zelebrieren grosse Schauspielkunst. Regisseurin Léa Pool indes beweist ein ausserordentliches Gespür für das Erzählen einer Geschichte und das Erzeugen von imposanten Bildern. Dass sie die Sorgen ihrer jugendlichen Figuren ernst nimmt, ist freilich die entscheidende Grundvoraussetzung für das Gelingen von «Lost and Delirious». Schliesslich weiss auch Léa Pool: Schmerz ist relativ, und der Schmerz eines gebrochenen Herzens lässt Liebende jeden Alters in dunkle Abgründe blicken – oder fallen.