von Sandro Danilo Spadini
Ein verträumter Lausbub von fünf Jahren ist es, der da im ersten Bild von Richard Linklaters «Boyhood» in die Luft guckt. Vielleicht malt er sich gerade die ganzen spannenden Dinge aus, die in seinem Leben nun kommen mögen. 163
Minuten später blickt Mason (Ellar Coltrane) wieder in die Ferne. Er träumt noch immer. Wahrscheinlich vom grossen Leben, das nun beginnt. Er ist jetzt 18 Jahre alt. Und wir fühlen uns ein
bisschen wie die Eltern, die das nicht glauben mögen. Haben wir ihn in diesen fast drei Stunden doch aufwachsen sehen. Buchstäblich. Haben mit ihm all das mit- und durchgemacht, was das
Aufwachsen so schön und so schwierig macht. Den ersten Kuss und die erste Trennung. Die ersten Demütigungen und die ersten Triumphe. Die ersten Zweifel und die ersten Ziele. Die ersten
Enttäuschungen und die ersten Überraschungen. Das erste Velo und das erste Auto. Das erste Bier und den ersten Joint. Den ersten Job und den ersten Tag am College. All die ersten Male: Wir waren
da. Die guten Zeiten, die schlechten Zeiten: Wir waren dabei. Und eben: buchstäblich. Denn was Regisseur Richard Linklater («Before Sunrise») hier erschaffen hat, ist etwas Besonderes, etwas
Beispielloses: Er hat eine komplette Jugend dokumentiert, indem er mit denselben Schauspielern an 39 Tagen zwischen 2002 und 2013 die Szenen für «Boyhood» einspielte.
Keine grossen Dramen
Spektakulär ist diese so entstandene Kinoerfahrung – wiewohl das vermutlich eine recht typische Kindheit ist für einen texanischen Jungen und es selten die grossen Dramen sind, die Mason
widerfahren. Es ist einfach das Leben: manchmal schlicht, manchmal ergreifend. Beginnen lässt Linklater alles in seiner Heimatstadt Austin. Mason lebt dort mit seiner Mama (Patricia Arquette) und
der grossen Schwester (Linklaters Tochter Lorelei) in einer dieser stinknormalen Vorortssiedlungen. Der Papa (Ethan Hawke) ist jetzt auch wieder im Land und kommt sporadisch vorbei in seinem GTO
ohne Gurte. Er ist noch immer ein ziemlicher Kindskopf. Aber Spass hat man mit ihm schon. Mehr jedenfalls als mit der doofen Schwester und der Mama. Und viel mehr als in Houston, wohin die
Familie umgezogen ist zu Mamas neuem Mann (Marco Perella). Der erweist sich mit der Zeit nämlich als jähzorniger Tyrann mit Alkproblem. Und so zieht man eben weiter. Zur nächsten Schule. Zum
nächsten Mann (Brad Hawkins). Der sich dann ebenfalls vom patenten Kerl zum saufenden Ekel wandelt. Und währenddessen wird Mason allmählich erwachsen. Und sieht, wie die Leute kommen und gehen.
Und wie die, die bleiben, sich auch verändern. Wie die nervige Schwester ganz nett wird. Wie die Mama ob der ständigen Nackenschläge nicht verbittert, sondern entspannt wird. Und wie sogar der
Papa ein bisschen erwachsen wird, eine neue Familie gründet, sich einen Schnauz stehen lässt und den GTO gegen einen Minivan eintauscht.
Mehr als nur ein Film
Eine ungeheure Leistung ist das, was Linklater hier vollbracht hat: ein Film, der riesigen Respekt abnötigt, der aber anders als viele Filme, die riesigen Respekt abnötigen, auch enormen Spass
macht und sehr oft sehr komisch ist. Doch wie immer bei Linklater sind die Dialoge nicht nur schlagfertig, sondern auch scharfsinnig. Und ebenso passt es zu diesem Ausnahme-Autorenfilmer, dass er
es sich nicht hat nehmen lassen, im Hintergrund etwas Zeitgeschichte von der Irak-Invasion bis zu Obamas Wiederwahl ablaufen zu lassen; ein wenig Popkultur in Form einer höchst geschmackssicheren
musikhistorischen Reise einzustreuen; und eine kräftige Portion Texas beizugeben: Vaterland. Jesus. Waffen. Das alles rundet ein Bild ab, das ohnedies und trotz der über zwölf Jahre verteilten
Dreharbeiten schon sagenhaft rund ist. Bei alledem und bei all dem Entdecken und Lernen, all dem Staunen und Begreifen, all dem Wachsen und Gedeihen scheint freilich immer eines am hellsten und
klarsten durch: dass Linklater das Leben von ganzem Herzen liebt. In die Kinogeschichte wird er mit seinem Riesenprojekt eingehen, keine Frage, keine Diskussion. Denn das ist nicht einfach ein
Film, das ist ein Filmereignis. Und was «Boyhood» auch ist: ein Wunder. Ein unfassbar schönes Wunder. «Ist das alles nicht ein bisschen überwältigend?», fragt Mason am Schluss. Man könnte ihm
nicht mehr zustimmen.