Träumen damals in Amerika

Mitten aus dem Leben, mitten ins Herz: Das sechsfach Oscar-nominierte autobiografische Immigrantendrama «Minari» ist ein charmanter Erinnerungsstrom ohne Allüren – fried- und schlagfertig, familien- und naturverbunden.

 Pathé Films

von Sandro Danilo Spadini

Zehn Jahre lang habe er Hühnerhintern angeschaut, sich den Allerwertesten aufgerissen; jetzt sei es Zeit für einen Neuanfang, meint der koreanische Familienvater Jacob (Steven Yeun) zu seiner Frau Monica (Yeri Han). Doch diese ist nur mässig überzeugt von den hochtrabenden Plänen ihres Gatten, statt wie zuvor in Kalifornien und Seattle als «Chicken Sexer» zu arbeiten, hier auf der frisch erstandenen kleinen Farm in Arkansas einheimische Lebensmittel für die jährlich um 30'000 Personen anwachsende koreanische Gemeinschaft in den USA anzupflanzen. «Es wird einfach immer nur schlimmer und schlimmer», grantelt Monica stattdessen. Selbst das günstige Klima, das jetzt, im Jahr 1983, für die von Präsident Reagan umgarnten Farmer gerade herrscht, lässt ihre Stimmung nicht aufhellen. Für Monica, die Städterin, ist das hier einfach nur ein «Hillbilly-Ort». Acht Stunden sind sie neulich nach Dallas gefahren, um Chilisamen zu kaufen. Und so abgelegen, wie sie wohnen, müssen sie schon in die Kirche gehen, um überhaupt so etwas wie ein Sozialleben zu haben. Die beiden Kinder hingegen, vor allem der mit Herzproblemen geschlagene Bub David (Alan S. Kim), scheinen dem Leben draussen auf dem Lande einiges abgewinnen zu können und erfreuen sich an der grünen Weite, dem gleissenden Sonnenschein, dem lieblichen Vogelgezwitscher. Und Jacob, dieser humorvolle und tatendurstige Optimist, ist sowieso Feuer und Flamme ob der seiner Meinung nach «besten Erde in Amerika» und träumt bereits von 50 Morgen Land. Was Wunder also, kracht es zwischen den Eheleuten in den eigenen kargen vier Wänden bisweilen so gewaltig wie unter freiem Himmel, wo Wetterkapriolen Jacobs brüchige Visionen noch zusätzlich ins Wanken bringen. Immerhin eilt nach dem harzigen Start im neuen Umfeld nun Monicas Mutter Soonja (Oscar für Yuh-Jung Youn) aus der Heimat herbei. Die kann zwar weder kochen noch backen, aber im Sprücheklopfen und Kartenspielen macht ihr niemand was vor; und auch wenn der Kleine zunächst Mühe mit der ihm zuvor noch unbekannten Oma hat und stänkert, sie rieche nach Korea, ist sie alsbald nicht mehr wegzudenken: aus dem Leben der Familie – und aus diesem ohnehin schon prächtigen Film.

Scheitern und Neunanfang

So zauberhaft der Film, so märchenhaft ist auch dessen Entstehungsgeschichte: «Minari» war das finale Aufbäumen von Regisseur und Drehbuchautor Lee Isaac Chung, der praktisch bereits abgeschlossen hatte mit dem Filmen und zum Wohl seiner Familie eine Vollzeitstelle als Lehrer anzunehmen gedachte. Die Zeit bis zum Stellenantritt wollte er freilich noch für ein allerletztes Drehbuch nutzen. Inspiriert von der amerikanischen Autorin Willa Cather und deren Ausspruch, das Leben habe für sie begonnen, als sie aufgehört habe zu bewundern und angefangen habe zu erinnern, setzte sich Chung in seinem Lieblingscafé hin und fing an, über seine Kindheit im ländlichen Arkansas in den Achtzigerjahren zu sinnieren. Er habe sich an die Ankunft in den Ozarks erinnert, den Wohnwagen auf der Wiese, den Schock seiner Mutter, an den Geruch der frisch gepflügten Erde, die Freude seines Vaters, an den Bach, wo er Steine geworfen und seine Grossmutter den «Minari» genannten koreanischen Wassersellerie gepflanzt habe. Und als er dann 80 solcher Kindheitsfetzen erinnert hatte, da begann er mit dem Schreiben: einer Geschichte über «Familie, Scheitern und Neuanfang».

Freundlich und fröhlich

Und gerade so fühlt sich Chungs sechsfach und in fast sämtlichen wichtigen Kategorien Oscar-nominierter Film nun an: wie ein Strom aus Erinnerungen, sanft und friedlich dahinfliessend, gleichmässig und geradlinig dahingleitend, mit feinem Humor und grossem Herzen, ganz ohne Allüren und Trara. Eine familien- und naturverbundene Ode an die Kindheit ist das geworden, die in kunstvollen Weitwinkelaufnahmen auf Entdeckungstour geht und diesem Ort, an dem bestimmt nie irgendetwas passiert, und den Schrulligkeiten seiner mitunter in spontane Gebete und Ad-hoc-Exorzismen ausbrechenden Bewohner mit höflichem Staunen und fröhlicher Offenheit begegnet. Ein freundlicher Charmeur, der sich nicht an sein Publikum ranschmeisst, sondern sich anschmiegt wie eine selbstzufrieden schnurrende Katze, die weiss, dass sie sich längst jedermanns Sympathien gekrallt hat. Ein in nur 25 Tagen in und um Tulsa, Oklahoma, gedrehtes Juwel, das mit spielender Leichtigkeit in einer scheinbar ewig zurückliegenden Zeit schwelgt, als in Amerika das Träumen noch möglich war. Und ein gerade von Steven Yeun und der in Südkorea höchst populären Yuh-Jung Youn perfekt gespieltes autobiografisches Wunderwerk schliesslich, das die Unbilden und Rückschläge zwar nicht vergisst, wo der Schmerz aber selbst im zusehends ernsteren Schlussdrittel nie dominiert, schnell wieder in den Hintergrund rückt und Platz macht für neue Entdeckungen, neue Träume, neue Hoffnungen, auf dass der Strom des Lebens weiterfliessen und die Sonne am nächsten Morgen wieder in voller Pracht aufgehen möge.