Aufwachsen. Aufwachen. Erwachen

Der Oscar-Siegerfilm «Moonlight» schildert das Schicksal eines schwulen Schwarzen aus schwierigen Verhältnissen. Statt sich am Drama zu laben und im Dreck zu suhlen, entdeckt er dabei Wärme und Schönheit. Eine Offenbarung.

 

von Sandro Danilo Spadini

Die Konfusion war gross, als «Moonlight» an den Oscars dann doch zum Jahrgangsbesten ausgerufen wurde; und sie ist im Grunde noch nicht verflogen. Denn dass ein rein schwarz besetztes, 5 Millionen Dollar günstiges Schwulendrama eine bombastisch bonbonbunte Übung in Hollywood-Nostalgie aussticht? Da muss es der sonst so selbstbezogenen Academy ernst sein mit der Wiedergutmachung für #OscarsSoWhite (und ein bisschen wohl auch noch für die Verschmähung von «Brokeback Mountain» damals). «Black Lives Matter» wird mit reingespielt haben, das aktuelle politische Klima auch; und so war diese Wahl ja absehbar, ist sie nachvollziehbar, und keiner wird sie dem «Moonlight»-Team missgönnen. Aber politische Korrektheit hin, weisse Gönnerhaftigkeit her: Ist sie denn auch verdient? Sagen wir es so: Ja!

Vorhölle, Hölle, Inferno

Erzählt wird hier, in drei Akten, die Geschichte von Chiron: schwarz, schwul, aus schwierigen Verhältnissen, Mutter Junkie, Vater weg. Klingt nach Problemkino. Und schwer zu ertragen ist das dann bisweilen auch, und Probleme gibts zuhauf in diesem komplizierten Leben in der schäbigsten Gegend von Miami. Doch dem Film haftet eine unaufdringliche Ernsthaftigkeit an, und ihm wohnt eine unerwartete Schönheit inne. Denn Regisseur Barry Jenkins möchte sich nicht am Drama laben und im Dreck suhlen; vielmehr läuft zwischen Erniedrigungen und Entbehrungen auch mal Mozart, hört man Vogelzwitschern und immer wieder das Rauschen des Meeres. So auch am Anfang, bevor die Kamera zum Drogendealer Juan (Oscar für Mahershala Ali) wandert, dessen Weg sich gleich mit dem des vor Tyrannen fliehenden Chiron (Alex Hibbert) kreuzen wird. Juan wird den wortkargen Knaben unter seine Fittiche nehmen, ihm eine Zuflucht geben, wenn seine Mutter (Naomie Harris) mal wieder nicht da oder auf Drogen ist. Und Juan – stattlich, stark, stolz – wird zum Idol werden für den scheuen und schmächtigen Chiron. Erst jedoch wartet auf den, in Akt 2, nach der Vorhölle Kindheit die Hölle Highschool. Die Bullys sind da noch böser; und Chiron (nun Ashton Sanders) wird lernen, dass Schwäche nicht geduldet wird und Schwulsein schon gar nicht. Verstanden haben wird er das, als wir ihn im dritten Akt dealend in Atlanta antreffen. In der Logik der narrativen Eskalation müsste das nun das Inferno sein. Aber wenn man sich an die Regeln hält und all die maskulinen Codes, wenn man hart und stark ist, was Chiron (Trevante Rhodes) nun ist, dann geht das, dann packt man das, dann schwimmt man obenauf. Und vielleicht kommt irgendwann auch der Mut, nicht nur zäh, sondern auch sich selbst zu sein.

Natürlich und selbstverständlich

Das Thema Homosexualität köchelt hier freilich eher unterschwellig. So wie es das bei Chiron tut. Und wie es die Grossartigkeit dieses so fokussierten Films über das Erwachsenen-, nein Mannwerden tut, die sich still und stetig offenbart. Etwa in jenem stechend starren Blick von Kinderdarsteller Alex Hibbert, mit dem er seiner zugedröhnten Filmmutter ein Giftgemisch aus Tadel, Wut, Abscheu und Resignation entgegenschleudert. Oder in diesem Dialog, als er Juan fragt, ob er Drogen verkaufe, und dieser mit gesenktem Kopf ein «Yeah» hervorkrächzt; und er dann noch fragt, ob er Drogen an seine Mama verkaufe, und Juan noch leiser «Yeah» sagt und sich in Mahershala Alis Gesicht die Scham über diese shakespearsche Zumutung einfrisst. Das ist pure Regie- und Schauspielkunst; und es ist vor allem echt. Jenkins, selbst aus Miami stammend, weiss nämlich, wovon er hier redet; Chirons Geschichte speist sich aus seiner Biografie und der von Autor Tarell Alvin McCraney. Sicher auch deshalb hat er ein solches Urvertrauen ins eigene Erzählen. Man meint, er sei stets bei sich. Müsse niemandem etwas beweisen. Und sage und zeige genau das, was er sagen und zeigen will. Ohne forcierte Relevanz. Ohne penetrante Brillanz. Alles ganz natürlich und selbstverständlich. Als ob er nicht anders könne. Unerwartet ist das oft. Und so frisch wie beim jungen Spike Lee, wenn der Vergleich erlaubt ist; und er ist es wohl, hat Jenkins (37) doch den Übervater des New Black Cinema selbst eine Inspiration genannt, nebst jüngeren Ikonen schwarzen Kunstschaffens wie den Filmemachern Ryan Coogler («Creed») und Ava DuVernay («Selma») oder den Musikern Kendrick Lamar und Frank Ocean. Wie sie hat Jenkins eine ganze Menge zu sagen, Verdrängtes, Verschwiegenes, Verstörendes. Doch am Schluss schweigt er, und man hört dann wieder das Rauschen des Meeres. Und ahnt: Schönheit ist trotzdem möglich.