Wie eine Ikone das Volk vergiftete

In «Dark Waters» begibt sich der Filmpoet Todd Haynes in fremde Gefilde und beleuchtet einen der grössten Skandale der Industriegeschichte: minutiös und mit der gebührenden Ruhe und Sachlichkeit, aber gleichwohl formvollendet.

   Ascot Elite

Von Sandro Danilo Spadini

Sie hoffe bloss, dass er wisse, was er da tue, sagt ihm seine Frau (Anne Hathaway), als die Sache allmählich ernst und augenscheinlich persönlich wird. Es ist eine Frage, die sich der eigentlich auf die Verteidigung grosser Unternehmen spezialisierte Anwalt Robert Bilott (Mark Ruffalo) später sicherlich auch gestellt haben wird – nachdem der nicht enden wollende Rechtsstreit seinen Tribut gefordert hat: finanziell, gesundheitlich, familiär und seelisch. Dass sich das alles letztlich gelohnt haben wird, steht derweil spätestens dann ausser Frage, wenn man nach zwei Stunden im Abspann erfährt, wie es ausgegangen ist. Über 600 Millionen Dollar an Schadenersatz hat Robert für seine rund 3500 Klienten erwirkt und obendrein einen der grössten, schlimmsten, widerlichsten Skandale der Industriegeschichte aufgedeckt: die systematische Vergiftung der kompletten Menschheit durch das Chemieunternehmen DuPont, das hier gerade noch als «Gigant», als «Titan» der Industrie, als «ikonische amerikanische Gesellschaft» abgefeiert worden ist; das aber schon zu Beginn der Sechzigerjahre wusste, dass die in seiner Teflon-Produktion verwendete Perfluoroctansäure mehrere Arten von Krebs, Geburtsdefekte und zig andere Krankheiten auslösen kann – und das dann: nichts unternahm. Oder besser: die Fakten vertuscht, seinen politischen und wirtschaftlichen Einfluss geltend gemacht und fleissig Milliardengewinne gescheffelt hat. «Zur Hölle mit ihnen!», keift Roberts Boss (Tim Robbins) denn auch einmal.

David gegen Goliath

Es ist das freilich einer der seltenen Gefühlsausbrüche, die Regisseur Todd Haynes in seinem Justizdrama «Dark Waters» zulässt. Ansonsten: alles sehr kontrolliert, mit der gebührenden Ruhe und Sachlichkeit geschildert, minutiös und akribisch aufgearbeitet, sachte eskalierend. Das klingt jetzt zunächst mal trocken wie die Martinis, die die Anwälte schlürfen, und so staubig wie die Aktenberge, die Robert abarbeitet. Und es klingt so gar nicht wie etwas, was ins Beuteschema des für seine poetische Bildsprache berühmten Haynes passen würde: dieses Vorreiters des New Queer Cinema, der in den letzten beiden Dekaden die Glam-Rock-Kultur zelebriert («Velvet Goldmine»), ein formvollendetes Melodram im Douglas-Sirk-Stil kreiert («Far from Heaven»), das Phänomen Bob Dylan erforscht («I’m Not There»), einen Film noir aufgefrischt («Mildred Pierce»), eine verbotene lesbische Liebe entfesselt («Carol») und eine kindliche Traumwelt ausgeheckt hat («Wonderstruck»). Immerhin etwas hat dieser David-gegen-Goliath-Kampf um unternehmerische Fahrlässigkeit dann aber doch gemein mit Haynes’ Œuvre: Er ist – zum grössten Teil – nicht im Heute angesiedelt; seine auf einem «New York Times Magazine»-Artikel basierende Geschichte beginnt Mitte Neunzigerjahre, von wo aus mit fast obsessiver Detailversessenheit und dem gewohnt wachen Auge für zeitgerechte Ausstattung und die damaligen sozialen Gepflogenheiten der hürdenreiche Weg in die Gegenwart unter die Füsse genommen wird. Die Schauplätze: Roberts Heimat und sein Arbeitsort, das trostlos industrielle West Virginia und die anonyme Grossstadt Cincinnati, Ohio – zwei gänzlich unpoetische Orte mithin, die Haynes indes maximal dicht und stimmig in kühlen, blassen Wintertönen in regnerische oder nächtliche Szene setzt und denen er manch gespenstisches Hopper-haftes Einsamkeitsbild abringt. Zum Frösteln ist das – erst recht, wenn sich auch noch ein klirrend thrilliger Hauch von Paranoia in die graublaue Kulisse schleicht. Nun ist Haynes’ Film endgültig bei den Genrebesten wie «The Verdict», «Erin Brokovich» oder «Michael Clayton» angekommen, nachdem er sich über deren traditionelle Rituale schon länger herangepirscht hat – vom nächtlichen Aktenwälzen über konspirative Treffen mit Experten bis zur Schockerkenntnis: «Wir werden vergiftet!»

Die Opfer nicht vergessen

Und da war sie also wieder: die gelegentliche emotionale Eruption, die eine umso stärkere Wirkung zeigt, weil das Pathos so wohldosiert ist, weil die eloquenten Anklagen so rar sind, weil sich der Film nicht in Moralpredigten ergeht. Lieber lässt er die Fakten sprechen. Oder einen wie den DuPont-Manager Phil Donnelly (Victor Graber), der lügt: «Wir produzieren Chemie für die Menschen. Um ihr Leben sicherer, glücklicher, länger zu machen.» Und der dann aber bald einmal die Contenance verliert, als Robert nachbohrt: Er sehe Geister, sei auf einer «Fishing Expedition». Und: «Verklag mich!» – «Fick dich!» – «Hinterwäldler!» Noch mehr Platz gibt «Dark Waters» freilich den Opfern dieser selbst regulierten, sprich unregulierten Branche, dieses kranken, manipulierten Systems; anders als so oft gehen sie nie vergessen. Diese menschliche Komponente ist es denn auch, die «Dark Waters» zu mehr als nur einem lehrreich interessanten Film macht. Sie und die teils fast zur Unkenntlichkeit gestylten Mimen und deren würdevolles Spiel: Mark Rufallo war nie besser, Anne Hathaway länger nicht so gut, und Tim Robbins hat man zuletzt so selten gesehen, dass man vergessen hat, wie gut er ist. Zu ihnen gesellt sich noch eine Reihe Herren mittleren Alters – von Bill Camp über Bruce Cromer bis zu Bill Pullman –, die in kleineren Rollen ihre Klasse aufblitzen lassen dürfen, weil Todd Haynes ihnen den dafür nötigen Raum gewährt. Und auch Robert Bilott lässt er schliesslich noch einmal gewähren und kurz emotional werden: «Es ist böse, es ist verdammt noch mal böse!», klagt der tapfere Anwalt nahe der Verzweiflung stöhnend, ehe er sich wieder seinem Kampf widmet, der bis heute andauert – und der uns alle betrifft.