Windend, schwindend, verschwindend

Das Kammerspiel «The Father» schildert sein niederschmetterndes Drama aus der Sicht eines Demenzkranken: ein schonungsloses Schaufenster in die dunkle Nacht einer Seele – und ein spektakulärer Parforceritt von Hauptdarsteller Anthony Hopkins.

Ascot Elite

von Sandro Danilo Spadini

Er brauche niemanden, wiegelt Anthony (Anthony Hopkins) ab, nachdem ihm jetzt schon die dritte Pflegerin davongelaufen ist. «Alles ist in Ordnung», versucht er seine Tochter Anne (Olivia Colman) zu besänftigen. Doch als sie ihm dann eröffnet, sie gehe weg aus London, ziehe nach Paris, da ändert sich der Ton. «Die Ratten gehen vom Schiff!» Und: «Du verlässt mich, du lässt mich im Stich!» Und endlich noch: «Glaub mir, hier geht etwas Komisches vor sich!» Aber natürlich glaubt ihm Anne das nicht; natürlich weiss sie mehr als Anthony und auch ein bisschen mehr als wir, die wir im Kammerspiel «The Father» die meiste Zeit in die Position des demenzkranken Mittachtzigers versetzt werden und das stetig rätselhaftere Geschehen aus der Perspektive dieser sich verlierenden und bald verlorenen Seele erleben, die nicht mehr länger, nicht mehr immer Herr ihrer Sinne ist, eines einstigen Ingenieurs, der es gewohnt war, die Zügel in der Hand zu halten, und dem dieser Kontrollverlust mithin umso mehr zu schaffen machen muss. Wir nehmen also das scheinbar wahllose Kommen und Gehen in seinen vornehmen vier Wänden, dieses verworrene Wechselspiel der Personen und ihrer Funktionen nicht von der beobachtenden, der wissenden Warte aus wahr, sondern von Anthonys, für den das alles einfach keinen Sinn mehr ergibt und dem denn auch oft nur noch dieses eine Wort bleibt, um sich Luft zu verschaffen: «Nonsense!»

Über das Altern

Sie hat etwas Polanskieskes, diese klaustrophobische Konfusion, in die uns der 41-jährige französische Dramatiker Florian Zeller in seinem Kino-Regiedebüt zwängt, das auf seinem eigenen Theaterstück von 2012 basiert: Bisweilen ist es gleichsam gespenstisch, wie die Dinge hier ihren kurvenreichen Lauf nehmen, geheimnisvoll geradezu – da sind wir, anders als Anne, dann durchaus mit Anthony und teilen seine Paranoia, die von unheilschwangeren Klängen und bedeutungsschweren Kamerafahrten zusätzlich angeheizt wird. Offenkundiger indes, kraft seines Settings und seiner Thematik, erinnert «The Father» an Michael Hanekes preisgekröntes Altersdrama «Amour» (2012). Und man macht sich gewiss nicht eines Hangs zum heischenden, kreischenden Superlativismus verdächtig, wenn man Zellers letztlich freilich etwas theatral geratenen Film in eine Reihe mit Hanekes Werk stellt und ihn quasi zu dessen legitimem Erben ausruft – oder anders: zum vereinnahmendsten und berührendsten Film über das Altern seit Hanekes Requiem über die unsterbliche Liebe von Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva. Denn wie der grosse Österreicher schildert auch Zoller die Gebrechen und Zumutungen des allerletzten Lebensabschnitts wohl schonungslos, aber mitnichten herzlos: Anthony mag hier nicht der kauzige Alte sein, den niemand mehr ernst und dem man entsprechend nichts mehr krummnimmt; er ist aber auch kein Monster, wiewohl er von Anne so unendlich viel abverlangt, sie beleidigt und demütigt, beschimpft und verleumdet, sie «herzlos und manipulativ» zeiht. Sie sagt dann halt, er habe seine Eigenarten – und leidet still. Zeller aber denkt auch an sie und daran, was so eine Situation mit den Nächsten macht: an die Opfer, die Anne erbringt, an den Tribut, den diese rasende Abwärtsspirale von ihr fordert. Und Oscar-Preisträgerin Olivia Colman («The Favourite») ist dabei sicher die geeignete Mimin, das alles auf unprätentiöse Weise sichtbar zu machen.

Nochmals die ganze Palette

Nichtsdestotrotz: Dieser Film heisst immer noch «The Father», und er hat dem Darsteller dieses nicht mehr richtig präsenten und doch omnipräsenten Vaters im Frühling nicht umsonst einen zwar kaum erwarteten, aber maximal verdienten Oscar beschert. Was Anthony Hopkins, der mit seiner Figur nebst dem Vornamen auch den Geburtstag teilt, sich hier abringt, ist auf der Höhe seiner legendärsten Glanztaten: als Hannibal Lecter, Richard Nixon und James Stevens, der loyale Butler aus «The Remains of the Day». Es ist das recht eigentlich eine Werkschau, eine Performance, in der nochmals alles enthalten ist, was dieser Schauspielgott, der sich selbst stets nonchalant auf irdisches Niveau herunterrelativiert, in seiner Karriere zum Besten und Allerbesten gegeben hat, das ganze grandiose Repertoire, die ganze geniale Palette: also die geschmeidige Eloquenz, die unterkühlte Hinterhältigkeit, das plötzliche Aufbrausen, das raffinierte Manövrieren, der stählerne Argwohn und der Schneid und die Schärfe, die in Anthonys wacheren Phasen noch immer aufzublitzen vermögen. Aber eben auch all das nicht so Offensichtliche, vermeintlich Unspektakuläre, das die wuchtigsten, wichtigsten Rollen dieses notorischen Tiefstaplers jeweils gekrönt hat: jene Dinge, die sich zur Hauptsache in seinem Blick abspielen. So wandern und funkeln sie, diese Augen, in denen die Melancholie und die Träumerei, die Trauer und die Erschöpfung eines langen Lebens liegen, sie wundern und nerven sich, sind bald voller Wut oder Verwirrung, voller Staunen oder Verzückung, sind bald müde und verzagt, bald forschend und fragend, bald perplex, brüskiert, entsetzt. Und schliesslich, immer seltener, sind da Momente der Klarheit, der Erkenntnis womöglich, wo man versucht ist, in Hopkins’ Augen nach Frieden und Erlösung zu suchen. Doch so einfach wird das einem hier dann eben nicht gemacht.