Il testimone invisibile

 

Früher haben die Europäer geschimpft, dass ihnen die Amerikaner all die grossen Kinoerfolge nachmachten. Heutzutage kopieren sie sich schon selbst. Das Konzept der schwedisch-dänischen Krimiserie «Bron»/«Broen» etwa wurde mittlerweile schon in fünf andere Grenzgebiete exportiert, das der italienischen Filmkomödie «Perfetti sconosciuti» bereits in sagenhafte neun weitere Länder verfrachtet, zuletzt nach Deutschland («Das perfekte Geheimnis»). Der spanische Regisseur und Drehbuchautor Oriol Paulo nun darf von sich behaupten, gleich zwei solcher Blaupausen angefertigt zu haben, beide aus dem Thrillerfach: «El cuerpo» («The Body»), wovon es inzwischen auch zwei (!) indische und eine koreanische Version gibt, sowie «Contratiempo» («Der unsichtbare Gast»), den nebst wiederum zweimal den Indern unlängst auch die Italiener unter dem Titel «Il testimone invisibile» aufgewärmt haben. Extrem nah am Original klebend, steht auch dort ein höchst erfolgreicher Jungunternehmer unter Mordverdacht im Zentrum, selbstverständlich gespielt von Riccardo Scamarcio, der in den letzten Jahren gefühlt in 80 Prozent aller italienischen Kinohits mitgewirkt hat. Unter Hausarrest in Milano erhält dieser Yuppie eines Abends Besuch von seiner neuen Anwältin (Paola Sambo), die ihn auffordert, die ganze üble Geschichte en détail nochmals von Anfang an zu erzählen – und dabei gefälligst zu beachten, dass er sicher nicht schlauer sei als sie. Und so geht es also auch für uns wieder von vorne los in diesem definitiv schlaumeierischen «Nichts ist, wie es scheint»-Katz-und-Maus-Spiel, und wir reisen nun eben auf Italienisch Rückblende um Rückblende zurück zur Ursünde, zu diesem Wochenende in Trentino mit der nun ermordeten Geliebten (Miriam Leone), als die beiden in einen Fall von Fahrerflucht mit Todesfolge involviert waren. Was folgt, sind Enthüllungen und Revisionen, Vertuschungen und Revanchen, Lügen und Lavieren, Schuld und Sühne, Tricks und Twists, die dermassen köstlich clever sind, dass man es ja irgendwie verstehen kann, wenn jeder seine eigene Kinoversion davon haben will.

Man kann es im Fall der Italiener nicht nur verstehen, sondern sogar absolut goutieren, hat «Il testimone invisibile» doch ein paar Trümpfe in petto, die jenen des spanischen Originals wenigstens ebenbürtig sind. Nicht der geringste davon ist Scamarcio, der in einer Rolle nicht unähnlich jener im Brüderdrama «Euforia» abermals eine so beeindruckende wie einleuchtende Erklärung dafür liefert, warum er denn so wahnsinnig viel beschäftigt ist. Aber auch die rassige und elegante Inszenierung von Regisseur Stefano Mordini ist ein formidables Argument. Und wem das noch nicht genügt, der möge sich an der malerisch gebirgigen und bewaldeten Landschaft um das trentinische Molveno ergötzen. So oder so: Auch wenn hier ausgiebigst der cineastischen Sünde gefrönt wird, in den Flashbacks zu schwindeln, bis sich die Balken biegen, ist dies eine Geschichte, die so gut ist, dass man sie sich auch ohne den finalen Überraschungseffekt noch ein zweites Mal zu Gemüte führen kann. Mindestens.