Fluch und Segen der guten Tat

Das formelbewusste Familiendrama «Palmer» ist gut gemeint und nicht schlecht gemacht. Es hat einen formstarken Justin Timberlake und einen erfrischend unvoreingenommenen Blick auf das amerikanische Kleinstadtleben.

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von Sandro Danilo Spadini

Sylvain, Louisiana, ist nicht eben das Zentrum des Universums, nicht gerade der Nabel des Planeten. Doch für Eddie Palmer (Justin Timberlake) ist diese fiktive Kleinstadt im Grossraum New Orleans die ganze Welt. Hier ist er aufgewachsen, hier ist er in Highschool-Jahren zum Football-Helden avanciert – und hierhin kehrt er mit dem Bus zurück, als er die zwölfjährige Gefängnisstrafe wegen versuchten Mordes abgesessen hat. Was da auf den wortkargen Bartträger wartet, ist das übliche trostlose Ambiente: schwere Jungs mit Baseballcaps und leichte Mädels mit Billigtattoos, fauchende Fuchteln und aggressive Arschlöcher, speckige Bars und eingegangene Läden, abgesandelte Veranden und versiffte Sofas, Coors Light aus Büchsen und Mac and Cheese aus der Mikrowelle – das ländliche Amerika von heute halt; immerhin die Kirche und die Football-Uniformen sind in einem flotten Zustand. Begrüsst wird Palmer dann von dem einen oder anderen übrig gebliebenen Halb-Kumpel, der quirligen Oma (June Squibb) zu Hause, einem Toiletten-Quickie mit der Nachbarin vom Wohnwagen vis-à-vis (Juno Temple) und vor allen Dingen deren ziemlich eigenartigem kleinem Sohn Sam (Ryder Allen), der partout nur mit Puppen spielen und sich als Prinzessin verkleiden möchte. Palmer und Sam, der schweigsame Kerl und die kleine Nervensäge: Das ist also unser «odd couple», unser seltsames Paar, dessen Annäherung uns der als Regisseur eigentlich mehr auf Dokumentationen spezialisierte und als Schauspieler auf Nebenrolle abonnierte Fisher Stevens in den vielleicht nicht gerade wie im Flug, aber doch recht geschwind vergehenden 110 Minuten des Familiendramas «Palmer» vorexerzieren wird.

Authentischer Charme

Der bewährten Konstellation vermag Stevens nun nichts wirklich Revolutionäres beizufügen; und was auf dem Weg zur Freundschaft von Palmer und Sam, zu dieser Quasi-Vater-und-Sohn-Beziehung, alles passieren wird, ist eh klar, auch wann und wo es passieren wird. Das Wie schliesslich ist jetzt auch nicht unbedingt voller Überraschungen und Experimente, hat aber sehr wohl ausreichend authentischen Charme, dass man dranbleibt. Neben dem sehr kontrolliert agierenden Justin Timberlake, der hier nach drei Jahren Kinopause ein kleines Comeback gibt, und den starken Frauenrollen von Squibb, Temple und Alisha Wainwright als Sams Lehrerin ist es vor allem Stevens’ Schilderung des amerikanischen Kleinstadtlebens, die einen zu packen vermag und immer wieder applaudieren lässt. Anders als so oft ist das nicht dieser staunende Blick des Hollywood-Intellektuellen, dem in seiner bisweilen prätentiösen Schonungslosigkeit stets auch ein Voyeurismus-Geschmäckle anhaftet. Es ist das vielmehr eine mal bloss dokumentierende, mal sympathisierende und immer unvoreingenommene Herangehensweise, der sich Stevens verschrieben hat. Ein prächtiges Beispiel dafür ist, wie er Palmers Job als Schulhausabwart zeichnet: nicht mitleidig als etwas Entwürdigendes, sondern als eine normale, ehrliche Arbeit, derer sich sein Protagonist nie je zu schade ist.

Mit Grips und Seele

Mag sein, dass Stevens da und dort auch mal romantisiert und die eine oder andere Unbill verharmlost im Willen, das alles so familienverträglich wie möglich zu halten und nur im äussersten Fall in rauere und düsterere Gefilde vorzudringen. Und dass er es sich insgesamt allzu einfach macht, wenn er die allermeiste Zeit auf vertrautem Terrain verharrt und auf ausgeleierte Formeln abstellt, an denen er nur sporadisch schräubelt. Allerdings wird man das Gefühl nicht los, dass dieses Plädoyer für Toleranz, das die Violinen und die Posaunen im Kasten lässt, am Ende ganz genau der Film geworden ist, den Stevens im Kopf hatte, als er das Drehbuch von Cheryl Guerriero erstmals las – ein Film wie ein Erdnussbutter-Sandwich: ein unspektakuläres, aber bewährtes Rezept, vom Nährwert fragwürdig zwar, vielleicht auch etwas zu süss und zu klebrig, aber ideal zum gedankenverlorenen Konsum für den kurzen Glücksmoment. «Palmer» ist also nicht das Drama, das einen abwechselnd ins Grübeln stürzt und in Schluchzen versetzt. Es ist das aber ein unaufdringlicher Film, der genügend Grips und eine grosse Seele hat, der bei klarem Verstand ist und das Herz am rechten Fleck hat.