von Sandro Danilo Spadini
«Fake», seufzt der halbwüchsige Sam Fabelman (Gabriel LaBelle), als er seine ersten zarten Gehversuche als Regisseur auf der Leinwand begutachtet. Und dieses längst im Deutschen
angekommene Wort, es wird nachhallen in dem siebenfach Oscar-nominierten Drama
«The Fabelmans», in dem Steven Spielberg in die Fünfziger und Sechziger heimkehrt und nur spärlich verhüllt auf sein Aufwachsen und
sein filmisches Erwachen zurückblickt. Ein sehr persönlicher Film mithin, ein ungewohnt persönlicher Film eines Mannes, der zeit seines Tuns nie bewusst allzu viel von sich preisgegeben hat,
schon gar nicht in seinen Filmen. Aber eben: Wahrhaft echt wirkt das nicht. Sondern: geglättet und gekünstelt. Wie eine dieser autorisierten Biografien oder jene Dokus, wo die Hauptfigur auch als
Produzent amtet. Von ungefähr kommt das natürlich nicht. Denn mit dem Gefühlezeigen hat sich der erfolgreichste und ergo berühmteste Regisseur der Gegenwart seit je schwergetan. Selbst wenn er
mal wieder ernst geworden ist, hat das praktisch immer irgendwie gestelzt gewirkt, aufgesetzt und aufgebauscht – siehe «Munich», denke an «Bridge of Spies» und wage gar «Schindler’s List» in
diesem Licht zu betrachten. Und es hat alledem stets auch eine gewisse Berechnung innegewohnt, bei aller Sentimentalität ein recht unsentimentales Kalkül zugrunde gelegen. Und so ist es
unvermeidlicherweise auch hier: Von einem Seelenstriptease kann nicht die Rede sein. Aber um den Anschein einer ehrlichen Beschäftigung mit der Vergangenheit samt ihren Schattenseiten zu wahren,
wird der Weg dieses Sam Fabelman zwar als ein bisweilen steiniger und hürdenreicher beschrieben; doch kaum kommt der Abgrund ins Blickfeld, wird abgebremst und lässig umgeschwenkt Richtung
sonnigere Gefilde. Dorthin, wo es wirklich wehtut, wagt sich Spielberg nicht. Gleichzeitig gerät er auch nie derart ins Schwelgen, dass sein Film in himmlische Sphären abheben würde. Und das
macht «The Fabelmans» letztlich zu einer so unbefriedigenden Sache, die sich weniger wie ein Herzens- als ein Prestigeprojekt anfühlt: wie ein «Vanity Project» auch, einer von Eitelkeit
getriebenen Unternehmung, mit der sich der 76-Jährige im Spätherbst seiner Karriere selbst ein Denkmal setzen möchte.
Zwiespältiges Schauspielspektakel
Das öfters doch recht plumpe Vortäuschen von Emotionen, das so charakteristisch ist für diesen mehr im Fabelhaften denn in der Realität verwurzelten Filmemacher, ist in «The Fabelmans» von aller
Anfang an gegenwärtig – also bereits im Prolog, wo der da erst sechs Jahre alte Sam von seinen Eltern (Paul Dano und Michelle Williams) ins Kino gezerrt wird, um «The Greatest Show on Earth»
zu sehen, und zunächst eine Heidenangst hat, um hernach mit sperrangelweit offenem Mund und baseballgrossen Augen in Ehrfurcht zu erstarren und auf dem Heimweg im Auto in andächtige Stille zu
verfallen. Und um sicherzugehen, dass es wirklich auch jeder und jede kapiert hat, reibt Spielberg einem sodann obendrein eine Szene nach der anderen unter die Nase, die von der erwachten Liebe
zum Kino dieses kleinen Knopfs kündet. Parallel dazu werden wir mit den Dynamiken dieser augenscheinlich braven und biederen jüdischen Fünfzigerjahre-Familie, die mittlerweile in Arizona lebt,
vertraut gemacht: Burt, der Vater, ist ein Technikfreak und entsprechend mehr praktisch veranlagt, wiewohl auch er zuweilen von kühneren Dingen träumt. Mutter Mitzi derweil neigt dem
Künstlerischen zu und offenbart je länger, je mehr unstete Züge. Zum Stabilen und zur Labilen (und den gesichtslos bleibenden drei jüngeren Schwestern Sams) gesellt sich vorzugsweise noch ein
«Hausfreund», Onkel Bennie (Seth Rogen), der eigentlich bloss ein Arbeitskollege von Burt ist, über dessen Scherzchen Mitzi aber jeweils so inbrünstig kichert, dass wir lange vor Sam verstehen,
dass zwischen den beiden mehr ist, zu viel ist. Und um das Geschehen vermeintlich frisch und quirlig zu halten, streut Spielberg überdies die eine oder andere Stippvisite eines jüdischen
Verwandten ein, etwa von Onkel Boris (Judd Hirsch), der Sam mit russischem Akzent einen leidenschaftlichen Vortrag über das Wesen und die Pracht der Kunst hält. Es sind Momente wie diese, in
denen Spielberg seinen Stars ungewöhnlich viel Auslauf gibt. Freilich war er nie ein Regisseur, der das Maximum aus seinen Darstellern herausgekitzelt hat – in seiner über 50-jährigen Karriere
hat er nur zwei Stars zu Oscar-Ehren dirigiert. Und so verstreichen diese Gelegenheiten zur mimischen Profilierung denn auch diesmal meist ungenutzt. Immerhin solide präsentieren sich dabei
Newcomer Gabriel LaBelle und der gegen den Creep-Typ besetzte Paul Dano. Das Bravado-Spektakel hingegen, das die Oscar-nominierten Judd Hirsch und Michelle Williams veranstalten, ist eine
zumindest zwiespältige Angelegenheit. Gerade Williams geriert sich meist derart exaltiert, affektiert, über jedes gesunde Mass hinaus strapazierend, dass die Emotionen einmal mehr auf der Strecke
bleiben. Und das, was die jungen und jugendlichen Darsteller abliefern, nicht zuletzt im zweiten Teil, wenn die Fabelmans nach Kalifornien gezogen sind und der Film sich zu einem recht
gewöhnlichen Coming-of-Age-Drama um einen auch antisemitisch schikanierten Highschool-Teenager auswächst – das muss man leider als reines Schülertheater abkanzeln.
Fluchtpunkt Kino
Selbstredend hat dieses mit 150 Minuten überlang geratene Werk auch seine unbestrittenen Qualitäten. Die Kostüme und die Ausstattung sind, wie nicht anders zu erwarten stand, auf allerhöchstem
Niveau; die Kamera von Janusz Kamiński («Schindler’s List», «Saving Private Ryan») mischt sich gerne gewinnbringend ins Geschehen ein; die Farben sind prächtig und passend zur Stimmung, die mehr
nostalgisch denn sentimental ist; und ganz zum Schluss wartet Spielberg gar mit einem köstlichen Sahnehäubchen auf, wenn er Sam den legendären – in einem kultverdächtigen Auftritt von David Lynch
(!) gespielten – Westernregisseur John Ford treffen lässt, den «grössten Regisseur aller Zeiten», wie es heisst. Ein Schelm jetzt, wer hier Koketterie wittert und Spielberg unterstellt, er wolle
damit suggerieren, dass dieses Prädikat mittlerweile ihm gehöre (und eine Freude für jene wenigen, die Lynch in diesem Rang wähnen). Das ist alles fraglos nett gedacht und hübsch gemacht. Doch es
ist weit, meilenweit davon entfernt, mächtig und magisch zu sein. Schon erstaunlich, wie einer, der sonst seine Filme so spielerisch zum Fliegen bringt, hier derart viel Mühe bekundet, den Zauber
einzufangen; ja dass er dabei etwas tut, dessen er sich bei aller berechtigten Kritik an seinem Wirken sonst kaum je schuldig gemacht hat: zu langweilen. Das indes liegt auch am Skript, das
Spielberg abermals zusammen mit Tony Kushner («Lincoln») verfasst hat. Neben dem wahnsinnig biederen Humor und dem gewohnt zahmen und keuschen und züchtigen und korrekten Ton ist die Erzählung
viel zu oft unfokussiert, ist die Schilderung dieser Mann- und Künstlerwerdung einfach nicht stringent, kohärent genug; mitunter wirkt das gar wie eine beliebige Aneinanderreihung von Szenen, wie
verfilmte Tagebucheinträge gleichsam, die für ihren Verfasser von ungleich grösserem Belang sind als für uns. Übermässig aufschlussreich ist das bei alledem trotzdem nicht. Denn allzu weit aus
der Deckung wagt sich Spielberg nicht. Dass sein Alter Ego vor der harten Realität in die luftigen Fantastereien des Kinos flieht – das ist die romantische, die offensichtliche und wohl
gewünschte Deutung. Vielleicht sind Spielbergs Filme ja deshalb solch eskapistische Veranstaltungen. Vielleicht aber auch nicht. Denn vielleicht ist auch das wieder nur Show. Schwer zu sagen.
Unmöglich zu wissen. Und am Ende des Tages kommt dann eben wieder dieses eine Wort hoch: Fake.