von Sandro Danilo Spadini
Man muss es schon gesehen haben, was dieser Haufen waghalsig Wahnsinniger damals in den Siebzigern am eben eröffneten World Trade Center in New York veranstaltet hat. Die blosse Beschreibung des
Coups von Hochseilartist Philippe Petit und dessen Komplizen kann kaum einen Hauch des verrückten Muts, des frechen Witzes, der baren Schönheit dieses Unterfangens vermitteln. Es war der 7.
August 1974, und es war, als tanzte Monsieur Petit auf den Wolken zwischen den Zwillingstürmen. In Tat und Wahrheit war er tags zuvor nach monatelanger Planung und jahrelanger Träumerei zusammen
mit seinem Team und mitsamt der schweren Ausrüstung illegal ins World Trade Center eingedrungen; und in der Nacht hatte ein von Turm zu Turm führendes Seil gespannt, auf dem er sodann am Morgen
eine Stunde lang hin und her spazierte. Aber eben: Für die völlig verdutzten Passanten unten sah es so aus, als schwebte da einer hoch oben in New Yorker Lüften. Kein Anzeichen von dem Schweiss,
der Konzentration, der Akribie war auszumachen – alles verflogen und verdrängt von purer Magie. Selbst die Behörden waren letztlich verzaubert und gefangen im Bann dieser Bilder: Zwar wurde Petit
im Anschluss an sein luftiges Tänzchen in Gewahrsam genommen, einer psychologischen Evaluation unterzogen und vor Gericht gebracht. Doch aufgrund der weltweiten Begeisterung für dieses
Schelmenstück liessen sie schliesslich sämtliche Anklagepunkte fallen, und Petit wurde als Zeichen der Anerkennung sogar eine Dauerkarte für die Aussichtsplattform des World Trade Center
überreicht.
Spannung pur
Was ist das für einer, der solches tut? Die Antwort darauf gibt nun der aus den letzten Oscars siegreich hervorgegangene Dokumentarfilm «Man on Wire» von James Marsh: ein völlig Verrückter,
jemand vom Kaliber eines Philippe Petit jedenfalls. Dem bald 60-jährigen Franzosen sitzt auch heute, dreieinhalb Jahrzehnte später, noch der Schalk zappelig im Nacken, wenn er leutselig und
gestenreich, voller Energie und Stolz über jene Geschehnisse aus dem Sommer 1974 Auskunft gibt. Allein das Wesen Petits und seiner vor die Kamera geholten Mitstreiter garantiert schon mal eine
gewisse Portion Humor in diesem kostbaren Zeitzeugnis. Der Rest besteht indes vor allem aus Spannung, ist «Man on Wire» doch nervenzerfetzender als manch ein Thriller. Das später als
«artistisches Verbrechen des Jahrhunderts» apostrophierte Ereignis wird von Regisseur Marsh denn teils auch mit Mitteln des Spielfilms dokumentiert. So wie unter die erläuternden Kommentare von
Zappel-Philippe und seiner Combo, die Originalvideos und -fotos immer wieder nachgestellte Szenen und pfiffige Trickmontagen eingestreut werden, so orientiert sich Marsh auch bei der Dramaturgie
am Fiction-Bereich. Sie folgt im Grunde jener des klassischen Caper-Movies – «Rififi» in echt sozusagen. Bei alledem geht freilich keine inszenatorische Kraftmeierei vonstatten; untermalt von
einem wunderschönen Soundtrack und ausgestattet mit hoher erzählerischer Sensibilität, verbildlicht «Man on Wire» vielmehr die dem ganzen Unterfangen und natürlich vor allem dem Akt selbst
innewohnende Fragilität und wird so auch der Poesie des Augenblicks gerecht.
Ein Wunderwerk
Gewiss nicht zuletzt vor dem Hintergrund der späteren tragisch-traumatischen Ereignisse am World Trade Center ist ebendies nicht hoch genug zu schätzen. Wenn ein Film dies denn vermag, so leistet
«Man on Wire» damit nämlich auch einen kleinen Beitrag zum Abschliessen mit dem Horror. Indem er eben auf die Poesie fokussiert, brennt Marsh ein Bild der Zwillingstürme als eines Orts der
menschlichen Macht zum Guten und Schönen in die Erinnerung und überdeckt so wenigstens für einen magischen Moment das unauslöschliche Schreckensgemälde von Hass und Schrecken. Nicht nur, aber
auch deshalb geht «Man on Wire» als veritables Wunderwerk in die Geschichte des Dokumentarfilms ein. Aber wie gesagt: Man muss das alles schon selbst gesehen haben.