Der ganz normale Wahnsinn

Mit dem Episodenfilm «Hundstage» holt der Österreicher Ulrich Seidl zu einem gezielten Schlag in die Magengrube aus. Schonungslos direkt zeigt er die psychischen und sexuellen Abgründe seiner Protagonisten auf.

 

von Sandro Danilo Spadini

Nein, nähere Bekanntschaft machen möchte man mit diesen Bewohnern eines Wiener Vororts eigentlich nicht, diesem runden Dutzend an gescheiterten Existenzen, einsamen Seelen und ganz normalen Wahnsinnigen, denen sich Regisseur Ulrich Seidl in seinem Film «Hundstage» widmet. In loser Abfolge und beinahe ohne Überschneidungen beleuchtet Seidl deren psychische und sexuelle Abgründe, welche unter dem Einfluss einer mörderischen Hitzewelle noch verstärkt zu Tage treten. Derweil dem Zuschauer Einblick in das tiefste Innerste der Protagonisten gewährt wird, erfährt er über ihr Alltagsleben nur wenig. «Hundstage» spielt an einem Wochenende, das «normale» Leben ist ausgeblendet. Einige der Figuren bleiben gar namenlos.

Sex und Gewalt

Schonungslos, drastisch und ungewohnt direkt rückt Seidl diesen wohlgenährten, aber traurigen und zutiefst einsamen Menschen, welchen zur Tragik letztlich die Grösse fehlt, zu  Leibe – was durchaus im wörtlichen Sinne verstanden werden darf: Von einer explizit pornografischen Szene in einem Swinger-Club über Intimrasur bis hin zum Seniorenstrip wird nichts ausgespart. Hinzu kommt die unerbitterliche Darstellung von physischer, sexueller und verbaler Gewalt, welche Seidl in langen, teils quälend langen Sequenzen dokumentiert und welche durchweg gegen die Frauen gerichtet ist. Einzig zum Schluss wird in einer unsagbar grotesken Szene der Spiess umgekehrt – mit der wesentlichen Einschränkung allerdings, dass die widerwillige Frau von einer männlichen Drittpartei zum sadistischen Akt gezwungen wird.

Optisch beeindruckend

Seidl hat seinem Film einen gleichsam naturalistischen, dokumentarischen Anstrich verpasst, wovon das grobkörnige Bild, der gelegentliche Einsatz der Handkamera, aber auch die sich grösstenteils aus Laiendarstellern rekrutierende Darstellerschar zeugen. Zugleich stellt er mittels eines meisterhaften Umgangs mit diversen Stilmitteln wie etwa jenem der Kadrage ein grosses handwerkliches Geschick unter Beweis. Die grossartigen, zumeist mit statischer Kamera gefilmten Aufnahmen aus der Totalen und bisweilen der Supertotalen, die entfernt an die Bilder von Edward Hopper erinnern, erfüllen zudem einen Zweck jenseits der blossen optischen Gestaltung. Sie gewähren den Figuren nicht nur ein wenig Privatspähre, sondern  ermöglichen es dem Zuschauer überdies, sich einerseits wieder in die Position des Voyeurs zurückzuziehen und auf Distanz zu diesen oftmals jämmerlichen und peinlichen Gestalten zu gehen (was nach all den «hautnah» erlebten Demütigungen und Peinlichkeiten nachgerade tröstlich ist). Scheinbar gleichgültig gegenüber den rastlos umherirrenden Menschen vermitteln sie durch ihre Betonung des Geometrischen, der klaren Linien, des «Funktionierenden» andererseits ein Bild von deren Verlorenheit und Einsamkeit inmitten einer an sich geordneten Welt. Und gerade in diesen Einstellungen steigt dann auch endlich eine zuvor lange verweigerte Empfindung in einem hoch: Mitgefühl. «Hundstage» ist ein Film an der Grenze des Erträglichen, der nicht immer über jeden Zweifel erhaben ist und sich mitunter der Effekthascherei verdächtig macht. Als Ganzes stellt er jedoch ein äusserst homogenes Gebilde dar. Kein einfacher Film, aber ein Film der haften bleibt – und das ist schon sehr viel.