Lebenslektionen eines Todgeweihten

Mit «Saw X» reist die nicht totzukriegende Horrorreihe zurück zu ihren Anfängen und entdeckt dort ihre alten Stärken wieder. Zu einem nicht geringen Teil liegt das an ihrer vermenschlichten Hauptfigur, die hier bisweilen auch neue Wege gehen darf und sich dabei nur selten verirrt.

Ascot Elite

von Sandro Danilo Spadini

Eigentlich lag der Kerl ja schon ganz zu Beginn des vierten Teils auf dem Seziertisch in der Gerichtsmedizin. Dass er anderthalb Jahrzehnte später, im nunmehr zehnten Aufguss, noch immer sein krudes Unwesen treibt, ist also durchaus der Rede wert. Aber was hatten sich die Macher der «Saw»-Franchise doch verbiegen und verheddern müssen, um ihren viel zu früh ans Totenbett gefesselten Protagonisten Jigsaw (Tobin Bell) doch noch irgendwie in die Plots einzubinden und so die stetig wirrer werdende grosse Geschichte der nach den «Conjuring»-Filmen zweitlukrativsten Horrorreihe aller Zeiten fortzuschreiben. Nach dem siebten Teil im Jahr 2010 schien es dann, als seien ihnen die Ideen ausgegangen und als hätten sie nun doch ein Einsehen – nur um dann sieben Jahre später allen Unbilden zum Trotz das Comeback zu wagen und dieses auch noch «Jigsaw» zu taufen. Dies freilich sollte dann aber endgültig das letzte heiser geraunte Hurra des sadistischen Moralapostels mit den selbst gebastelten Folterspielzeugen gewesen sein – wenn auch nicht der Abgesang auf die Reihe selbst, die vor zwei Jahren mit «Spiral» einen Relaunch in gänzlich frischen Gefilden anstrebte, mit neuem Personal und einer Annäherung ans Genre des Polizeithrillers. Weil das indes nicht nur, aber gerade auch wegen des peinlichen Chris Rock in der Hauptrolle dermassen gründlich in die Hose ging, wurde die Übung schon nach dem ersten Versuch wieder abgeblasen und ein «Zurück zu den Wurzeln» ausgerufen. In «Saw X» sind nun zum Glück keinerlei ungelenke Verrenkungen vonnöten, um den, nun ja, unsterblichen Killer John Kramer alias Jigsaw zurückzubringen, den intellektuellere Zeitgenossen wahlweise als eine Metapher für Dick Cheney, als Ausdruck einer «symbolischen Männlichkeitskrise», als personifizierte Kritik an der Amtsführung von George W. Bush oder als Zeichen für die Sinn- und Erfolgslosigkeit von Folter gelesen haben. Denn die neuste Auflage ist zeitlich zwischen den beiden ersten Teilen angesiedelt. Kramer ist da zwar alles andere als munter und fröhlich und vielmehr schon schwer gezeichnet von seinem Hirntumor. Aber zum Spielen aufgelegt ist er gleichwohl.
 
Sonne und Vogelgezwitscher
 
Er rate ihm, einen ruhigen Tod zu sterben, sagt ihm sein Arzt. Aber «to die easy»: Das ist so gar nicht Kramers Stil. Maximal noch ein paar Monate gibt man ihm, das Testament ist schon geschrieben – und dann tut sich der Hoffnungsschimmer auf in Person eines Bekannten aus der Krebsselbsthilfegruppe, der eine Wunderheilung durchlaufen hat bei einem Spezialisten in Norwegen. Der ist zwar mittlerweile untergetaucht, weil er mutmasslich dem Staat und der Pharmabranche ein profitschmälernder Dorn im raffgierigen Auge ist; seine Tochter (Synnøve Macody Lund) vermag Kramer aber via Internet aufzuspüren und zu kontaktieren. Und ein Telefonat später findet er sich bereits ausserhalb von Mexiko-Stadt wieder, in einer idyllischen Klinik, wo sie ihm endgültig die Hoffnung zurückgeben. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, und wir fragen uns allmählich, was der «Saw»-Veteran Kevin Greutert, der Regisseur des sechsten und des siebten Teils, hier vorhat mit dieser Franchise, die weltweit über eine Milliarde Dollar eingespielt hat und dabei stets auf ihre Alleinstellungsmerkmale gesetzt hat: einen grünstichigen Shabby-Look (ja, ohne Chic), schnelle Schnitte und rasante Kamerafahrten aus dem MTV-Zeitalter und natürlich die mannigfachen Foltermethoden und -instrumente, die dermassen bizarr sind, dass sie nur einem sehr kranken Hirn entsprungen sein können. Doch keine Sorge: All das kriegen wir auch im zehnten Teil wieder zu sehen – kurz nachdem Frau Doktor dem Todgeweihten nach vermeintlich erfolgreicher Operation «ein gutes Leben» gewünscht hat, «ein gutes und langes Leben, John». Denn dass es damit nicht klappen würde, wissen wir ja – wie gesagt: Der Mann wurde in Teil 4 vom Pathologen aufgeschnitten, nachdem er sich in der vorangegangenen Folge, vermutlich mit allerhand wunderlich-widerlichem Gerät bewaffnet, in die ewigen Jagdgründe verabschiedet hatte. Ergo muss etwas faul sein – und so faul und verdorben ist die Sache dann, dass man bei dem, was darauf in vollster Übereinstimmung mit unseren Erwartungen folgen wird, sogar etwas Verständnis und mitleidige Sympathie aufzubringen vermag für den Killertüftler mit dem penibel kalibrierten moralischen Kompass. In diesem Sinne also: Lasst die Spiele beginnen!
 
Mehr als ein Folterporno
 
Dass man in der Folge bisweilen mit Kramer mitfiebert und ihm applaudieren möchte, liegt aber nicht nur an der abgrundtiefen Bösartigkeit seiner fraglos einer «Spezialbehandlung» bedürfenden und notabene beinahe ebenbürtigen Widersacherin – sondern auch an einer gewissen Entdämonisierung, der dieses Monster in der gewaltfreien ersten halben Stunde unterzogen worden ist, in der es sich einmal als «so eine Art Lebenscoach» bezeichnet. Überhaupt bemüht sich «Saw X», bei aller gewohnt grenzwertig garstigen Grauslichkeit, um einen seriöseren Unterton und so etwas wie, ja wagen wir es zu sagen, Menschlichkeit. Das fängt schon beim Erscheinungsbild an, das unbestreitbar im «Saw»-Look gehalten ist, im Vergleich zu den Vorgängern aber ein wenig gepimpt wurde. Und es findet seine Fortsetzung in Kramers Sermon über Moral und Ethik, der dieses Mal nicht ganz so hohl und durchsichtig wie eine Ausrede für allerhand horrorhafte Schandtaten wirkt, sondern mit seiner Kritik an der Gesundheitsindustrie zum Kopfnicken anregt. Komplett raus aus der Schmuddelecke des Folterporno-Genres, in die die Reihe immer wieder geschrieben wurde, findet sie zwar auch mit «Saw X» nicht; aber es wird hier offenkundiger denn je in der fast 20-jährigen Geschichte dieser Franchise, dass dies schon immer nur die halbe Wahrheit war. Ja, die Filme hielten noch jedes Mal ziemliche Zumutungen bereit, und die unverhohlene, schiere Lust, mit der diese Zumutungen zelebriert wurden, hatte stets nicht nur etwas Zynisches, sondern auch etwas Pubertäres und eben Pornografisches. Barer Selbstzweck waren die Gewaltexzesse und Gräueleruptionen in diesem Spiel des Lebens, diesem Vita-Parcours der perversen Art, aber nie – sie standen im Dienste der Handlung und eines Philosophierens über den Wert menschlichen Leids und Lebens. Dass diese beiden Kernelemente nicht immer in einem akzeptablen Einklang standen, ist dann eine andere Geschichte; so wie auch der obligate finale Twist nicht bei jeder Folge gleich viel anerkennendes Staunen auszulösen vermochte. In dieser Hinsicht fällt nun auch der neuste Teil etwas ab mit einer wenig cleveren Auflösung, die gar konstruiert wirkt. Quasi als Entschädigung trumpft «Saw X» in der Filmmitte mit einer hübschen Überraschung auf, die insbesondere die Hardcore-Fans freuen müsste – und die nur jene überhaupt erfassen, die sich im «Saw»-Universum auskennen. Das indes bleibt die Ausnahme; Vorwissen ist ansonsten keines nötig. Was man dann aber nicht mitschneidet: dass die Reihe sich hier wieder auf ihre Stärken besinnt und so zu alter Form zurückfindet.