von Sandro Danilo Spadini
Wer hat Schuld? Die verwirrte Mutter, die seine Kindheit versaut hat? Der vermeintliche Vater, der ihn verleugnet hat? Das Idol, das ihn vor aller Augen lächerlich macht. Die Angebetete, die ihn
ignoriert? Die Politiker, die seine Therapiestunden wegsparen? Oder schlicht die Gesellschaft, die hier, in diesem von Müll und Riesenratten vergammelten Gotham City zu Beginn der Achtziger, vor
dem kollektiven Kollaps, einem kompletten Nervenzusammenbruch steht? «Wird die Welt immer verrückter?», fragt sich Arthur Fleck (Joaquin Phoenix) also nicht grundlos, nachdem er in den lauten und
dreckigen, gefährlichen und aggressiven Strassen einmal mehr nur das Schlechteste gesehen hat, wozu Menschen fähig sind. «Warum sind immer alle so grob?», ächzt er dem Nullpunkt nah, der
Verzweiflung schon fast anheimgefallen, als er wieder, schon wieder, immer wieder Zurückweisung und Ablehnung, Kränkungen und Demütigungen erfährt. Wer denn nun Schuld hat – das spielt jetzt
keine Rolle mehr. All das Übel, es verdickt sich nun zu einem schwarzen Loch, in das er tiefer und tiefer eintaucht, bis er in ihm versinkt und verschwindet, bis es ihn verschluckt, um ihn
endlich wieder auszuspeien in diese kaputte Welt: auf dass er aus den Trümmern und den Flammen neu geboren, das System aus dem Angeln heben und als zerzauster Prediger der Disruption zum Helden
der Vergessenen wird – auf dass er der Joker wird.
Vorbild Scorsese
Bis Arthur Fleck zu Batmans fürchterlichem Feind mit der verschmierten Fratze wird: Das ist ein waghalsiger Ritt durch einen sonnenlichtlosen Grossstadtdschungel; ein irres Tänzchen auf der
Rasierklinge; ein düsterer Geniestreich am Rande des Wahnsinns. Koordiniert wurde dieser von Todd Phillips, dem Regisseur der «Hangover»-Filme und einem mithin abwegigen Kapellmeister für diese
depressiv delirierende Symphonie in Moll; und inspiriert ist sie nicht so sehr vom Batman-Kosmos – weder den Comics noch den Verfilmungen – als vielmehr von den Scorsese-Klassikern «Taxi Driver»
(1976) und «King of Comedy» (1983), inklusive eines Auftritts von Robert De Niro. Phillips ist sogar so weit gegangen, in
«Joker» nicht nur auf jegliches Superheldentum zu verzichten, sondern auch die Batman-Referenzen auf ein Minimum zu beschränken. Entsprechend ist er auch nicht so sehr erpicht darauf, zu
zeigen, wie Batman, der hier als halbwüchsiger Bruce Wayne kurz auftritt, zu seinem Erzrivalen kommt – sondern wie jemand wie Arthur Fleck zu jemandem wie dem Joker wird. Dass man davon zwei
Stunden später mehr als nur eine Ahnung hat, garantiert dann ein fulminanter Joaquin Phoenix. Auch er geht in seiner Joker-Interpretation eigene Wege, fernab von dem längst legendären Auftritt
Heath Ledgers und meilenweit entfernt von jenem frivolen Jack Nicholsons. Dies freilich sinnfälligerweise, da er hier ja die meiste Zeit eben gerade nicht den arglistigen Joker, sondern den
erbärmlichen Arthur Fleck verkörpert: einen armen Tropf, der auf sieben verschiedenen Medikamenten ist und unter unkontrollierten Lachanfällen leidet. Einen nach Anerkennung gierenden
Einzelgänger, der schreibt: «Ich hoffe, mein Tod macht mehr Sinn als mein Leben»; der bettelt: «Ich will mich einfach nicht mehr schlecht fühlen»; der klagt: «Ich war nicht eine Minute in meinem
verdammten Leben glücklich.»
Bitte lächeln
Phoenix, abgemagert bis auf die Knochen, spielt diesen Soziopathen in spe angemessen schrill, so wie Phillips für dieses der Katastrophe geweihte Leben die passenden Bilder und die treffenden
Worte findet. Arthur haust mit seiner Mutter, die ihn tatsächlich «Happy» nennt, in einer schummrigen Bruchbude, verdingt sich in den übelsten Winkeln als Werbeschilder schwenkender Clown,
offenbart sich in trostlosem Ambiente einer desinteressierten Therapeutin, blamiert sich als Komiker in halb leeren Clubs vor gelangweiltem Publikum. Sogar das Licht, ausnahmslos künstlich, wirkt
schmutzig. Und die Menschen, die sind sowieso dreckig, allen voran der Widerling Thomas Wayne, Bruce’ Vater und womöglich auch Arthurs. Gegen seinesgleichen, die oberen Zehntausend, richtet sich
denn auch nicht nur der Aufstand, zu dessen Ikone der Joker werden wird, sondern auch die rustikale Gesellschaftskritik des in Venedig prämierten Films: «Leute wie Sie sind denen scheissegal»,
sagt die Therapeutin zum Abschied noch zu Arthur. Phillips‘ Film sind sie es nicht. Er erzählt die andere Seite einer bekannten Geschichte: tragisch, traurig. Und wütend. Vor allem wütend. Wie
Arthur steht auch er lange kurz vor der Explosion, bis der Wahn sich in hysterischer Befreiung entlädt und sich endlich Bahn bricht. Und nur noch dieses Lachen zurückbleibt. Dieses irre Lachen.