Das Leben geht eben nicht weiter

Eine deutsche Regisseurin hat eine englische Miniserie zu einem amerikanischen Thriller verdichtet. Das Ergebnis mag etwas überladen und überambitioniert sein – grundsolide Unterhaltung bietet «The Unforgivable» aber allemal.

Netflix

von Sandro Danilo Spadini

Zwölf Jahre ist es her, da lief im britischen Fernsehen die Miniserie «Unforgiven». Der von Sally Wainwright («Happy Valley») geschriebene Dreiteiler vermochte zwar den einen oder anderen Preis abzustauben; als waschechtes Highlight britischen Krimischaffens ging er aber nicht durch – schliesslich war man damals noch relativ frisch verwöhnt von Genregenossen ganz anderen Kalibers wie «Cracker», «Prime Suspect» oder «Waking the Dead». Gleichwohl wurden schon ein Jahr später Pläne gewälzt, «Unforgiven» ins Amerikanische zu übersetzen und ins Spielfilmformat überzuführen. Der nachmalige «Mission: Impossible»-Zampano Christopher McQuarrie und Angelina Jolie kamen an Bord; doch sollte dann noch eine schlappe Dekade verstreichen, ehe das Remake unter Federführung von Produzentin und Hauptdarstellerin Sandra Bullock seine Premiere feierte. «The Unforgivable», so der dezent modifizierte neue Titel, markiert Bullocks zweite Kooperation mit Netflix und das US-Debüt der 38-jährigen deutschen Regisseurin Nora Fingscheidt («Systemsprenger»), und eines kann man dem Thriller um Sühne und Rache, Gnade und Busse nicht vorwerfen: dass er nicht ambitioniert wäre. Allein schon eine Serie zu einem Film zu verdichten, ist gewiss kein kinderleichtes Unterfangen – wiewohl sich die beiden Werke von der Laufzeit her letztlich gar nicht mal so weit auseinanderliegen. Aber Fingscheidt hat in ihren Film eben auch noch allerhand zusätzliche, vornehmlich gesellschaftskritische Aspekte reingepackt. Und so spannend das öfters auch ist – es gereicht «The Unforgivable» nicht nur zum Vorteil.

An mehreren Fronten

«Ich habe nichts zu sagen», meint Ruth Slater (Bullock) zu ihrem Bewährungshelfer (Rob Morgan), als sie nach 20 Jahren wegen guter Führung aus dem Gefängnis entlassen wird. Das unterscheidet sie also schon einmal markant von jener Frau, die sie in den nächsten 110 Minuten durch einen zermürbenden (und nicht klischeefreien) Hindernisparcours und in einen aufreibenden Mehrfrontenkampf schicken wird. Denn schon als Ruth in ihrer maroden neuen Bleibe im Chinatown von Seattle eintrifft und sich angesichts von überwältigendem Siff und Elend wohl fragt, ob es im Knast nicht doch gemütlicher gewesen sei, wird deutlich, dass uns Regisseurin Fingscheidt hier nicht mit einer kommunen Krimigeschichte abspeisen möchte. Und prompt führt sie schon in der Auftaktviertelstunde ganze vier Schauplätze und Brennpunkte ein: Da ist die City – laut, schmutzig, hektisch, unfreundlich –, in der sich die toughe Ruth abmüht, den Neuanfang zu schaffen, und wo das Drogen- und Obdachlosenleid wie in den meisten Städten des pazifischen Nordwestens noch etwas prominenter zutage tritt als anderswo im Land. Dann die Arbeiterbezirke – taub, schäbig, trostlos, unwirtlich –, wo die Brüder Keith (Tom Guiry) und Steve (Will Pullen) auf Rache an Ruth brennen, weil die vor 20 Jahren ihren Vater getötet hat. Und auf der Sonnenseite des Glücks führt uns Fingscheidt derweil in die Suburbia, wo Ruths jüngere Schwester Katie (Aisling Franciosi) mit ihrer Adoptivfamilie ein zwar glückliches, aber von namenlosen Erinnerungsfetzen überschattetes Leben führt; sowie in die Kleinstadt Snohomish im Norden, jenen Ort, in dem Ruth einst mit Katie wohnte, bis die Bank ihnen das Haus abknöpfte, im Zuge dessen sie dann den Sheriff mit der Flinte über den Haufen schoss. Richtig hübsch und lauschig ist es hier geworden, seit vor ein paar Monaten ein Anwalt (Vincent D’Onofrio) mit seiner Frau (Viola Davis) und den beiden Kindern eingezogen ist – freundliche Leute, wie es scheint, zumindest der Mann, der sich alsbald anerbietet, Ruth bei der Suche nach Katie zu helfen, nach ihrer «Baby-Sister», die sie nach dem Tod der Mutter und dem Suizid des Vaters grossgezogen hat und die vor 20 Jahren im «System» gelandet, im «System» verschwunden ist. All die Briefe, die Ruth ihr unentwegt geschrieben hat: unbeantwortet. Ja recht eigentlich weiss sie gar nicht, ob Katie überhaupt noch lebt. Die Suche nach ihr ist aber eben nur das eine. Da sind auch noch die Störmanöver der Sheriffsöhne, die sich mit ihren je eigenen Trauerspielen das Leben verpfuschen. Und der Kampf gegen die Vorurteile, für Vergebung oder wenigstens Verständnis, der je länger, je mehr zwecklos erscheint, zumal Ruth überall, wo sie hinkommt, sowieso einfach nur die Polizistenmörderin ist. Denn auch wenn das jetzt zwei Jahrzehnte her ist: Niemand, der damals dabei war, hat das Drama je verwunden, das Trauma überwunden. Diese unbarmherzige Härte, diese unchristliche, uramerikanische Gnadenlosigkeit – sie lassen Ruth bald zur Erkenntnis gelangen, dass die Menschen hier draussen auch nicht besser sind als die Knackis da drinnen. Wie deprimierend ist das denn!

Kein Thriller von der Stange

Ja, wie deprimierend ist das, was Fingscheidt hier ohne grossen Sinn für Zwischentöne offeriert: diese kaputte Welt, in der es wie ein Schock wirkt, wenn mal ein Hauch von Menschlichkeit hereindringt, etwa als der Arbeitskollege von der Fischfabrik (Jon Bernthal) tatsächlich nett ist zu Ruth. Und was Sandra Bullock mit ihrer stoischen, aber effektiven Performance anbietet, ist auch nicht dazu angetan, den Glauben an das Gute zu bewahren: Die Unbilden des Lebens haben Ruth übel zugerichtet, sich tief in ihr Gesicht gefressen und ihre Augen ermatten lassen. Immerhin hat sie sich meistens im Griff, wenn sie schon nichts unter Kontrolle hat. Ob das reicht, um sie zur Sympathieträgerin zu machen, ist freilich eine andere Frage. Eine recht müssige Frage indes, zumal diese Ruth trotz Dauerpräsenz und überlebensgrosser Pein selten richtig fassbar wird. Es ist bei den Figuren eben wie mit den vielen Themen, die Fingscheidt anschneidet, ohne sie dann seriös weiterzuverfolgen: Da wird wohl kräftig an der Oberfläche gekratzt, durchdrungen wird diese aber nie. Das mag an einer bisweilen unlogischen Entwicklung liegen, die diese traurigen Gestalten nehmen. Mehr noch hat es aber damit zu tun, dass der Film auch personell schlicht überfrachtet ist. Mit Leuten wie Vincent D’Onofrio, Viola Davis oder Jon Bernthal sind da zwar absolut sichere Werte am Werk; nur bekommen sie wenig Gehaltvolles zu tun, geschweige denn Konturen – dies nicht zuletzt auch deshalb, weil Fingscheidt die verschiedenen Subplots wenig souverän jongliert und ausbalanciert und manch einer ihrer Protagonisten zwischendurch gleichsam vergessen geht. Das ist natürlich schade und weckt dann doch ein bisschen Zweifel daran, ob der Spielfilm wirklich das richtige Format für diese Geschichte ist. Andererseits verplempert Fingscheidt ihre (zu) knapp bemessene Zeit definitiv nicht: Wiewohl sie stets die Augen offen hält und auch das Drumherum wahrnimmt, lässt sie sich am Ende nicht gross ablenken und treibt die Handlung zügig voran, sodass es einem zu keiner Sekunde je fad wird. Das ist schon mal nicht die schlechteste Eigenschaft für einen Thriller. Und dass dieser so reichhaltig gefüllt ist, hat eben auch den Effekt, dass man am Ende das Gefühl hat, etwas erlebt zu haben. Dieses Etwas mag zwar nicht gar so gewichtig sein, wie sich das die Regisseurin wohl gewünscht hat. Aber immer noch lieber über- als unterambitioniert, gerade in diesem Genre.