«Der wichtigste Mensch, der je gelebt hat»

Christopher Nolans dreistündiges Epos «Oppenheimer» ist alles in einem: Psychogramm, Geschichtslektion, Politthriller. Komplex, relevant, fesselnd. Magistral gespielt, intelligent erzählt, fulminant gefilmt. Es ist Kino der alten Schule, ein Film wie aus einem Guss – und ein Meisterwerk reinsten Wassers.

Universal Studios

von Sandro Danilo Spadini

Es ist ein wahrhaft einzigartiges und zumal für die heutige Kinozeit zutiefst widersprüchliches Genre, das sich der Brite Christopher Nolan da im Laufe eines runden Vierteljahrhunderts erschaffen hat: der intellektuelle Blockbuster. Von Film zu Film hoch und höher flog der bald 53-Jährige mit seinen Wunderwerken, von «Memento» über «The Dark Knight», «Inception» und «Interstellar» bis zu «Dunkirk», immer näher und näher an der Sonne; und mit jedem Mal wäre so auch der Fall tiefer und tiefer geworden, den er bei einem Scheitern erlitten hätte, und das Risiko grösser und grösser, das er nachgerade heldenhaft einging. Doch Nolan stürzte nicht ab, auch nicht mit jenen Unterfangen, die ihm nicht vollends glückten, «The Dark Knight Rises» etwa oder zuletzt «Tenet». Zwar gab es immer die einen, denen das alles zu trivial war, und die anderen, die seine cineastischen Rätsel als zu verkopft empfanden; und tatsächlich hat dieser Tausendsassa bis zum heutigen Tag auch noch nie einen Oscar gewonnen und wurde überhaupt erst ein einziges Mal in der Regiekategorie nominiert. Doch wurden diese mäkelnden Stimmen noch stets nicht nur von dem ominösen Marketinggetöse übertönt, das der Lancierung seiner Werke jeweils monatelang vorausgeht, sondern auch von den Jubelarien sowohl von der Kritiker- als auch der Publikumsfront. Christopher Nolan hat mit anderen Worten also sein Ziel erreicht: Er hat mit seinen Filmen stets auf kluge Art zu unterhalten verstanden. Die Krönung dieser Karriere freilich, der ultimative Nolan-Film gleichsam: Das würde noch bevorstehen, da war man sich irgendwie sicher. Und da darf man sich nun denn auch bestätigt fühlen. Denn sein neues, dreistündiges Epos «Oppenheimer» hat in der Tat das Zeug zum Opus magnum. Zum einen vereint die 100-Millionen-Dollar-Produktion alles in sich, was Nolan seit je ausmacht, alle seine Tics, Themen und Techniken; und zum anderen ist es wenn nicht sein bester, so doch sein reifster und relevantester Film.
 
Wenn Sterne sterben
 
Selbstverständlich ist es auch dieses Mal wieder ein riesiger Brocken, den sich der Londoner da vorgenommen hat: die Geschichte des umstrittensten Wissenschaftlers der Geschichte, des Leiters des Manhattan-Projekts, des Vaters der Atombombe – oder «des wichtigsten Menschen, der je gelebt hat», wie es gegen Ende von «Oppenheimer» einmal heisst. Der das sagt, ist Admiral Lewis Strauss (Robert Downey Jr.), einstiger Vorgesetzter des theoretischen Physikers J. Robert Oppenheimer (Cillian Murphy) und im Jahr 1959 Präsident Eisenhowers Kandidat für den Posten des Handelsministers. Wiewohl schon im Amt, muss die Ernennung noch vom US-Senat abgesegnet werden; und was die Politiker dabei zuvörderst interessiert, ist Strauss’ Verhältnis zu Oppenheimer, der zu jenem Zeitpunkt den Status als Nationalheld längst verwirkt hat, ein sterbender Stern sozusagen, hin- und hergerissen zwischen dem, was er erschaffen hat, und dem, was er zerstört hat, dem Beitrag, den er geleistet hat, und den Kräften, die er entfesselt hat, eine zerrissene Seele und ein einsamer Rufer in der Wüste des Kalten Kriegs. Es ist dies die eine Seite dieser komplexen und bisweilen auch komplizierten Geschichte, die Nolan mit «Fusion» (Kernschmelze) betitelt. Die andere läuft unter «Fission» (Kernspaltung): Hier wird Oppenheimers Sicht der Dinge erzählt, sein Leben und Wirken aufgerollt anhand einer Aussage aus dem Jahr 1954 vor einer feindseligen Kommission, die die Erneuerung seiner Sicherheitsfreigabe prüfen soll. Zur Sprache kommt dabei nicht nur sein wissenschaftlicher Werdegang, sein Austausch mit Albert Einstein (Tom Conti), Werner Heisenberg (Matthias Schweighöfer), Niels Bohr (Kenneth Branagh), die nervenaufreibende und endlich bahnbrechende Forschung im Kreise der Kollegen (u.a. Josh Hartnett, Benny Safdie, David Krumholtz) oder die so scharmützelreiche wie fruchtbare Zusammenarbeit mit Lieutenant General Leslie R. Groves (Matt Damon), unter dessen Aufsicht er in der Wüste von New Mexico das Los Alamos Laboratory aufbaut und unter dem Codenamen «Trinity» am 16. Juli 1945 schliesslich die erste Kernwaffenexplosion durchführt. Es ist hier, in dieser zum Sitzungszimmer umfunktionierten Abstellkammer, auch die Rede von Oppenheimers politischem Engagement, seinen Verbindungen zur Kommunistischen Partei, die zwar lose und längst gekappt sind, die in der gerade sehr virulenten Paranoia der McCarthy-Ära aber hochbrisant sind – weit brisanter jedenfalls als die Frauengeschichten, etwa mit der «roten» Jean Tatlock (Florence Pugh), die zur Demütigung seiner Gattin Kitty (Emily Blunt) ebenfalls hervorgezerrt werden und ihn auch auf der privaten Ebene zwielichtig erscheinen lassen.
 
Unendlich dicht, unfassbar schön
 
Ein politischer Ausschuss, ein Sicherheitsüberprüfungskomitee, Vorlesungssäle, Laboratorien – das sind weiss Gott nicht die Sets, auf denen die ganz grossen Kinofeuerwerke abgefackelt werden. Und auch die düstere Thematik und die monumentale Spieldauer sind nicht dazu angetan, den Glauben ans Ertönen bombastischer Entertainmentfanfaren zu festigen. Aber Nolan wäre eben nicht Nolan, wenn er es nicht schaffen würde, auch hier wieder beides unter einen Hut zu bringen: das Tiefsinnige und das Lustvolle, also ein Eintauchen in die physikalischen Zusammenhänge, das für Laien gerade noch fassbar und für Kenner der Materie halbwegs annehmbar ist, und ein Einbetten in den historischen Kontext, das so detailliert wie nötig und so kursorisch wie möglich ist, auf der einen Seite – und politische Manöver im Stile eines Thrillers und die Suche nach der Schuldfrage verpackt als Krimipuzzle auf der anderen Seite. Und quasi auf beiden Seiten ist «Oppenheimer» ein bewundernswert facettenreiches Psychogramm einer der streitbarsten und enigmatischsten Personen der Zeitgeschichte und eine gerne polemische und unerwartet wortwitzige philosophische Debatte. Eine ganz schöne Menge mithin, die Nolan da reingepackt hat; doch erzählt ist das wie aus einem Guss. In einem Tempo, das wohl konstant hoch, aber nicht eben rasant ist, und in einer – natürlich nonlinearen – Form, die fraglos Nolan-typisch clever verspielt und verschachtelt ist, die für einmal indes ohne jedes angeberische Geschmäckle auskommt. Dass dieser genreüberquerende und über die Zeitläufe balancierende Tanz auf dem Atomsprengknopf so ungemein dicht wirkt, hat aber auch ganz wesentlich mit dem Ton zu tun, in dem Oppenheimers Auf und Ab geschildert wird. Untermalt von einem präsenten, aber nicht allzu prominenten Soundtrack von Ludwig Göransson, wohnt den meisten Szenen eine ähnliche Intensität inne. Zwar steigert sich die (An)spannung nach dem zuweilen etwas spröden ersten Akt stetig, doch geschieht dies fast unmerklich; und wenn es doch einmal zu einer Eruption kommt, wie in dem gespenstisch magistralen Moment des «Trinity»-Tests auf der White Sands Missile Range oder auf emotionaler Ebene bei Oppenheimers erratischen Gewissenszuckungen oder bei der Aussage des Wissenschaftlers David Hill (Rami Malek) im Senat, dann ebbt die Dramatik so schnell ab, wie sie gekommen ist. In Einklang steht das mit dem ausnahmslos formidablen Spiel des vorwiegend mit Sonderlingen und Charakterköpfen besetzten Ensembles, aus dem neben Cillian Murphy und der im Schlussakt aufdrehenden Emily Blunt vor allem Robert Downey Jr. mit nichts weniger als seiner Karrierebestleistung heraussticht. Der Rahmen, in dem Nolan seine Stars hier gross aufspielen lässt, ist freilich ein ungewohnt weiter, womöglich der weiteste, den er je gewährt hat. Und er ist auch dieses Mal wieder ein wunderschöner, mit Bildern für die Ewigkeit, teils in Schwarzweiss, teils in dezenten, strukturreichen Farben und vornehmlich in Handarbeit ohne Computergrafik gefertigt, eingefangen von Stammkameramann Hoyte van Hoytema und gebannt auf einer speziellen 65-mm-Film-Kombination. Es ist Kino der alten Schule. So wie es aussehen sollte, wie man es aber kaum mehr zu sehen bekommt. Einer jener raren Filme, die das einen so profanen Tod sterbende Medium noch ein wenig am Leben halten. Aber ist «Oppenheimer» nun auch wirklich Christopher Nolans Opus magnum? Unmöglich zu sagen – schliesslich ist für diesen Filmfanatiker selbst der Himmel bloss eine Wegmarke und sicher nicht die Grenze.