Verirrt im Dschungel der unbegrenzten Möglichkeiten

Der Ensemblefilm «Disconnect» zeigt mit ernstem Nachdruck die Gefahren im Internet auf. Den eigenen hohen Ambitionen wird er dabei nicht immer gerecht – aber oft genug.

 

von Sandro Danilo Spadini

Der scheue Schüler knüpft auf Facebook Kontakt zu einem hübschen Mädchen. Die junge Frau sucht in einem Chatroom Trost bei einem mitfühlenden Fremden. Der ausgerissene Junge möchte sich vor der Webcam für die neugierige Journalistin entblössen. Doch wo Freunde hinzugefügt werden, treiben Feinde ein fieses Spiel. Wo Lösungen erhofft werden, bleiben Schock und Ratlosigkeit zurück. Wo Vertraulichkeiten empfangen werden, zwingen kriminelle Machenschaften zum Verrat. Mit Cybermobbing, Identitätsdiebstahl und Onlineprostitution werden diese Normalbürger aus den Suburbs von New York City hier hart konfrontiert. Was lustig gedacht war, naiv gesagt wurde und gut gemeint war, endet dreimal in der Katastrophe: Der High-School-Aussenseiter Ben (Jonah Bobo) hängt sich in seinem Zimmer auf, nachdem ihn die falschen Freunde im virtuellen Mädchengewand mit einem leichtsinnig versandten Nacktfoto öffentlich gedemütigt haben. Die von einem Kindsverlust noch immer erschütterte Cindy (Paula Patton) und ihr entfremdeter Gatte Derek (Alexander Skarsgård) verfallen in Schockstarre, nachdem ihnen sämtliche Konten leer geräumt worden sind. Der sich in seiner meist nackten Haut durchaus wohlfühlende Kyle (Max Thieriot) ist in Lebensgefahr, nachdem Reporterin Nina (Andrea Riseborough) dem FBI Informationen über seinen Arbeitgeber hat ausliefern müssen. Wo Freundschaft geknüpft, Persönlichstes preisgegeben, Nähe gesucht wurde, sind Lügen verbreitet, Existenzen zerstört, Leben gefährdet worden. Aber das ist womöglich erst der Anfang eines ungleich grösseren Unheils. Denn noch leben der im Koma liegende Ben, der von Cindy und Derek gejagte Internetbetrüger und der vor der Entlarvung stehende Kyle. Noch liessen sich die ultimativen Tragödien also abwenden. Wenn diese einsamen und verirrten Menschen draussen in der richtigen Welt nun nicht die gleichen Dummheiten begehen wie in dem weltweiten Netz, in dem sie längst gefangen sind.

Verängstigt und überfordert

In seinem Spielfilmdebüt «Disconnect» zeigt der preisgekrönte Dokumentarfilmer Henry Alex Rubin («Murderball») mit sehr ernstem Nachdruck die mannigfachen Gefahren auf, die auf uns im Internet lauern. Er tut dies in einer Konstruktion und einer Stimmung, die stark an den Oscar-gekrönten Ensemblestreifen «Crash» erinnern. Einen Tick rauer, realistischer kommt dieses bereits 2012 gefertigte Debüt indes daher: mit recht schmucklosen Bildern in sonnigem Licht und einer spärlich eingesetzten minimalistischen Musik, die ein gewisses Taumeln vermitteln möchte. Dazu passend gibt sich die Kamera gerne zappelig und sucht so die Angst und die Überforderung der Helden zu spiegeln: diese latente Angst vor den unbegrenzten Möglichkeiten in der neuen digitalen Wirklichkeit und die konstante Überforderung mit dem steten Verbundensein in den vermeintlich sozialen Medien. Dass wir trotzdem kaum mehr achtgeben und unseren Mitmenschen letztlich immer weniger verbunden sind, ist freilich eine der banaleren Erkenntnisse, die Rubin offeriert.

Thriller und Drama

Überhaupt vermag der Jungregisseur nicht immer den eigenen hohen Ambitionen gerecht zu werden. Und die Zurückhaltung legt er am Ende auch ab – nachdem sein Film zwischendurch fast schlapp gemacht und sich von Szene zu Szene geschleppt hat. Im Finale, wenn die drei kaum verknüpften Geschichten in einem Crescendo ihren potenziell unheilvollen Höhepunkten zustreben, wird es dann doch noch Nacht. Regen fällt. Tränen kullern. Die Musik ist lauter. Wird dramatischer. Die Bewegungen laufen langsamer ab. In Zeitlupe. In Superzeitlupe. Und dann kriegt Rubin doch noch einmal die Kurve und bremst ab. Es wäre auch schade gewesen um dieses hoffnungsvolle Debüt, das gut die Balance zwischen Thriller und Drama hält. Das aus seinen Mimen viel herausholt und etwa Jason Bateman in der Rolle von Bens gramvoll geläutertem Vater die rare Chance zum ernsten Schauspiel gibt. Und dessen Kernbotschaft vielleicht nicht bahnbrechend, aber sicher bedenkenswert ist: dass es nämlich eine neue Welt ist und wir gerade erst angefangen haben, sie zu erkunden.