Sternstunden im Herzen der Finsternis

Das philosophierende Weltraum-Epos «Ad Astra» ist ein Film voller Wunder. Nicht das geringste davon ist ein grüblerischer Brad Pitt als Held wider Willen, der sich und seine Lebensentscheidungen hinterfragt.

The Walt Disney Company

von Sandro Danilo Spadini

Nein, nicht mal jetzt steigt sein Puls über 80. Nicht, als ihm mitgeteilt wird, das Ende sei nah, alles Leben könnte zerstört werden, es sei eine Krise unbekannten Ausmasses. Und auch nicht, als ihm eröffnet wird, dass sein Vater, totgeglaubt seit anderthalb Jahrzehnten, auf seiner abgetauchten Expedition auf dem Neptun heroben für jene kosmischen Strahlen verantwortlich sein könnte, die die Existenz der Menschheit gefährden. Seine Vorgesetzten finden das beeindruckend: diese stoische Ruhe, diese kühle Beherrschung. Andere hingegen, seine Frau (Liv Tyler) etwa, bescheinigen ihm selbstzerstörerische Tendenzen. Und Major Roy McBride (Brad Pitt) selbst sagt einfach: Er habe schon immer Astronaut werden wollen. «Für die Zukunft der Menschheit und so.» Er ist halt: ein Mann. Ein Kerl. Ein Held sogar. Aber dann, ja dann sagt er noch ganz viele andere Dinge: dass das zumindest das sei, was er sich sage; dass das eine Rolle sei, eine Performance; dass er es im Weltraum angenehm finde, weil er diesen wenigstens verstehe. Und endlich: «Ich sollte etwas fühlen.» Sprich: Sein Puls sollte dann doch mal die 80 übersteigen. Nicht, weil er gerade einen Horrorsturz überlebt hat. Und auch nicht, weil vielleicht die Welt zu Ende geht. Aber sicher dann, wenn es möglich wird, dass sein Vater (Tommy Lee Jones) – ein Held!, wie Roy sich seit seiner so jäh abgebrochenen Kindheit einbläut –, dass also dieser Held von einem Vater, der als Astronaut weiter gegangen ist als alle andere, zu weit vermutlich, dass mithin diese seit 30 Jahren abwesende Legende noch am Leben sein könnte: als dem Wahnsinn anheimgefallener Desperado im Herzen der Finsternis, als ein Captain Kurtz am Rande des Sonnensystems, der sich da oben versteckt und beim Ausleben kruder Allmachtsfantasien weiss Gott was macht.

Eine gewisse Wichtigkeit

Einen Film voller Wunder hat Regisseur James Gray («The Immigrant») hier gedreht. «Ad Astra» heisst er, und nicht nur der lateinische Titel suggeriert wuchtige Wichtigkeit, nicht nur der elegische Soundtrack von Max Richter und nicht nur das sehr ernsthafte und maximal beherrschte Spiel des überragenden Brad Pitt. Vielmehr proklamiert bereits die Einblendung beim Take-off ominös: «Die nahe Zukunft – eine Zeit von Hoffnung und Konflikten». Und schon hängt hier eine Glocke von mysteriöser Melancholie über dem Geschehen, das Gray, wie es seit je seine Art ist, wie er es also schon in den Neunzigern bei den Krimis «Little Odessa» und «The Yards» getan hat, in herbstlich gedämpfte Farben getaucht hat. Und wenn dann Brad Pitt alias Roy McBride bald anfängt, uns aus dem Off gleichsam hauchend seine inneren Turbulenzen und seine innersten Gefühle zu offenbaren, dann wandern die Gedanken vom offensichtlichen Kubrick und Christopher Nolans sehr ähnlich gelagertem «Interstellar» flugs zum grossen Kinomystiker Terrence Malick. Und je näher Roy auf seiner Odyssee via Mond und Mars zum Neptun seinem Vater kommt, desto augenfälliger werden schliesslich die Anklänge an Joseph Conrads «Heart of Darkness», dieses Stück Weltliteratur, dem schon Francis Ford Coppola ein apokalyptisches Meisterwerk abgerungen hat.

Eine meditative Erfahrung

Die Prämisse von Grays Weltraum-Epos mag zwar nicht die originellste sein: Ein Mann, ein Mensch verlässt die Welt und fast unser Sonnensystem, um endlich zu sich selbst zu finden. Doch deren Umsetzung ist einfach nur bravourös und couragiert, konzis und konsequent, atemberaubend und markerschütternd bisweilen gar: der Horror, der Horror. Unvergessliche Bilder, unbeschreibliche Momente mit Sofortklassiker-Status beschert uns Gray bei seiner einsamen Karrierebestleistung, zu der er zusammen mit Ethan Gross («Fringe») auch das Drehbuch beigesteuert hat. Und interessante Ideen zur Zukunft hat der Mann auch: Piraten auf dem Mond, Tierversuche im All, ein Krieg um die neuen Ressourcen im Weltraum. Eine Menschheit also, die so skrupellos ist wie ehedem, Weltenfresser, die sich fremde Planeten einverleiben, um dort die ganzen Fehler und das Verderben von früher zu wiederholen. All das freilich ist nur Beiwerk, sehr bedenkenswert zwar, visuell eine Wucht natürlich, aber nicht der springende Punkt. Der Clou ist auch nicht, wiewohl fesselnd und berauschend inszeniert, dass Roy zum Neptun vorstösst, diese kosmischen Strahlen stoppt, den Vater zur Besinnung bringt. Der Fokus bleibt, trotz allem, trotz all der Wunder, in mitunter nachgerade meditativer Wachheit von Anfang bis Ende auf Roy: dass dieser Mann, dieser Kerl, dieser Held qua Geburt es doch noch schafft, zu sich selbst durchzudringen und die unendliche Leere zu überwinden. Und wie Gray das angeht, verrät nun seine ganze Meisterschaft. Denn so distanziert Roy ist, so wenig lässt auch der Film Nähe zu, der mit seinem beständigen philosophischen Gemurmel aus dem Abseits und der leise vor sich hin wabernden Musik aus dem Jenseits stets ein wenig entrückt wirkt. Berückend ist das, ist diese Erfahrung, die «Ad Astra» heisst. Und zu keinem Zeitpunkt während dieser ungeachtet allen Philosophierens und Psychologisierens geschmeidig verstreichenden zwei Stunden kann es einen Zweifel daran geben: James Gray greift hier nach den Sternen – und er kriegt sie zu fassen.