von Sandro Danilo Spadini
«Wir leben vielleicht zwei Minuten im Jahr», philosophiert der 47-jährige Geschäftsmann Edmond Burke (William H. Macy) in die Manhattaner Nacht hinein, nachdem er einen schwarzen Zuhälter unter
rassistischen Hasstiraden krankenhausreif geprügelt hat. Ein Schlüsselerlebnis von geradezu spirituellem Ausmass ist ihm dieser wüste Ausbruch; keine Spur von Bedauern tut sich folglich in ihm
auf. Im Gegenteil: Die ewig unterdrückten Ängste und Aggressionen des von der «Political Correctness» kastrierten Biedermanns liegen nun frei, auf dass er bar aller Fesseln der Zivilisation
gänzlich ungeniert die hässliche Fratze des primitiven Brandstifters zeigen kann. Unendlich befreiend wirkt dies auf Edmond. Denn Edmond ist geladen – geladen in jeder Beziehung. Und Edmond
rastet gerade aus – rastet richtig aus. Abgezeichnet hat sich das bereits am späten Abend, als er seine Frau (Rebecca Pidgeon) mit einer betont prosaisch gehaltenen Begründung verlassen hat und
danach auf der Suche nach einem launigen erotischen Intermezzo ohne Schwimmweste ins nächtlich urbane Haifischbecken eingetaucht ist. Was ihm bei seinem von zweifelhaften Bekanntschaften (u.a.
Denise Richards, Mena Suvari und Joe Mantegna) gesäumten Streifzug durch die Strip-Clubs und Massagestudios so alles widerfahren ist, hat dann aber auch nicht unbedingt zur Beruhigung seiner
Nerven beigetragen. Und deshalb hat er jetzt einen Drink nötig, den ihm die aufgeweckte Kellnerin Glenna (Julia Stiles) mit einem bald zur entsetzten Grimasse gefrierenden Lächeln servieren
wird.
Abstieg in die Hölle
Basierend auf David Mamets wenig bekanntem gleichnamigem Einpersonenstück von 1982, hat der bis dato eher unauffällig gebliebene 59-jährige Regisseur Stuart Gordon mit «Edmond» eine düster realistische und sarkastisch
komische Kreuzung aus Martin Scorseses Stadtabenteuer «After Hours» und Joel Schumachers Amoklauf-Drama «Falling Down» gefertigt. Ohne schonende Barmherzigkeit oder psychologische
Erklärungsversuche wird einem in dem von Mamet selbst adaptierten und von den typischen Stakkato-Dialogen gejagten Thriller eine so schwer zu verdauende wie zu fassende Horrorgeschichte
entgegengeschleudert – der graduelle und vom Protagonisten in exponentiell steigender Dankbarkeit angenommene Abstieg in seine persönliche Hölle in einer einzigen Nacht. Aus einem armselig
ungelebten Leben wird innerhalb von Stunden ein fatalistisch falsch gelebtes Leben, aus einem sich unmaskulin fühlenden Mann ohne fassbare Eigenschaften wird ein sich auf maskuline Urinstinkte
berufender Mann mit abstossenden Eigenschaften.
Macys Einmannshow
«In jeder Angst verbirgt sich ein Wunsch», regt der Film an, und um sicherzustellen, dass sich im Publikum die Furcht regt, einen Teil von sich selbst in Edmond zu erkennen, haben Mamet und
Gorden dem dergestalt Transformierten und in einem Fort Gedemütigten Hollywoods berühmtestes Jedermannsgesicht gegeben. Dieses gehört dem auf seinem Parforceritt von einem fies teilnahmslosen
Jazz-Soundtrack begleiteten alten Mamet-Spezi William H. Macy, der hier seine Paraderolle als Verlierertyp weiterentwickelt und in ungeahnte Sphären erhebt. Wenn Edmond durch die Strassen
Manhattans schlurft und sich gegenüber den leichten Mädels und schweren Jungs unsagbar hinterwäldlerisch anstellt, hat man zwar abermals das Gefühl, dass nur Macy so etwas spielen kann. Doch wenn
er in Boxershorts dasteht und mit seinem Erstweltkriegsmesser rumfuchtelt, während er rassistische und sexistische Parolen absondert, ist das, wie wenn der Loser aus «Fargo», «Boogie Nights» oder
«Thank You for Smoking» es jetzt endlich satt hat, der belogene und betrogene Loser zu sein. Aus Mamets Einmannstück macht Macy so eine Einmannshow, der von der rigiden Inszenierung und der
messerscharfen Vorlage eine ideale Bühne bereitet wird. «Sie sind an einem Ort, wo sie nicht hingehören», sagt eine Wahrsagerin am Filmbeginn zu Edmond. Auf seinen Verkörperer lässt sich diese
Aussage freilich mitnichten ummünzen.