Der Besuch der dramatischen Dame

Brüchig und markerschütternd: In Steve McQueens tiefgekühltem Drama «Shame» denkt Hauptdarsteller Michael Fassbender nur an das eine und gibt dafür sein letztes Hemd.

 

von Sandro Danilo Spadini

Erst mal liegt er eine geschlagene Minute einfach vollkommen unbeweglich da. Und nachdem Brandon Sullivan (Michael Fassbender) dann doch noch aufgestanden ist, schaut sein Bett aus wie eine Gletscherlandschaft. Eiseskälte verströmt auch das Innere seiner so weissen und kahlen Wohnung. In ihr läuft er in den ersten Momenten von Steve McQueens «Shame» meist splitternackt herum. Denn Brandon hatte gerade Sex. Sex mit einer Zufallsbekanntschaft, Sex mit einer Prostituierten, Sex mit sich selber unter der Dusche. Egal, Hauptsache Sex, immer Sex, überall Sex: später dann auch im Wohnzimmer vor dem Computer, im Büro auf dem Klo, unter dem freien New Yorker Himmel. Einfach Sex, bitte Sex, verdammt noch mal Sex. Normal ist das natürlich nicht. Vielmehr ist Brandon ein Süchtiger, und entsprechend wirkt sein Treiben: routiniert und freudlos. Gar etwas Bedrohliches hat es, wenn er mit seinem stets halb versteinerten Blick in der U-Bahn eine Fremde minutenlang auszieht in einer weiteren bis zum Äussersten gespannten und gestreckten Sequenz. Und dass da Wut und Trauer endlich aus ihm heraus müssen, das beginnt sich dann immer deutlicher zu zeigen, wenn er unangekündigten und unerwünschten Besuch erhält: von Sissy (Carey Mulligan), der in Los Angeles lebenden Schwester, Nachtclubsängerin von Beruf und eine sehr laute, sehr dramatische Person.

Keine Kompromisse

Weshalb Brandon so sehr von seiner vielleicht borderlinegestörten Schwester genervt ist, wird vom Londoner Videokünstler und Turner-Prize-Gewinner Steve McQueen nur erahnbar gemacht. Das Verhältnis ist jedenfalls tief zerrüttet und gleichzeitig vom Schicksal unauflöslich verengt. Irgendetwas wird wohl vorgefallen sein in der Jugendzeit in Irland. Dass nie geklärt wird, warum die beiden so sind, wie sie sind, und das tun, was sie tun, ist fraglos ein mutiger und kluger Entschluss von McQueen und seiner Co-Drehbuchautorin Abi Morgan («The Iron Lady»). Denn dieses Ungewisse steigert nochmals die ohnehin gespenstisch-tiefgekühlte Atmosphäre, die von all dem Weiss und all dem Glas, den die Stille durchbrechenden Bach-Pianoklängen von Glenn Gould und den monotonen Endlos-Einstellungen evoziert wird. Gerade bei Letzteren, wozu auch eine schläfrig-bluesige «New York, New York»-Darbietung Mulligans gehört, frisst sich das Künstlerisch-Unangepasste im Kino-Gastarbeiter McQueen in die Leinwand hinein. Wie beim fulminanten Debüt «Hunger» (2008) hält er einfach drauf: stoisch und unerbittlich. Klar und präzise ist seine Bildsprache dadurch, mit einem rauen und oft rohen Realismus, der sogar einen Ort wie New York zu entmystifizieren vermag. Ebenfalls keine Kompromisse gesteht McQueen dem irisch-deutschen Extremschauspieler Michael Fassbender zu, den er schon in «Hunger» über die Klippe und in tiefste Abgründe gestossen hatte. Dass Fassbenders wiederum äusserst körperbetonte, in Venedig gekrönte Parforceleistung ohne Oscar-Nominierung blieb, ist schlicht eine Schande.

Kurz vor dem Kollaps

Am vereinnahmendsten ist aber der Sog, den «Shame» entwickelt. Um diesen zu erzielen, setzt McQueen freilich nicht auf Dichte und Geschlossenheit; stattdessen baut er ganz unkonventionell immer wieder atmosphärische und rhythmische Störungen ein, wie bei Mulligans bestimmt fünfminütiger Gesangseinlage oder den anderen «Pausen» im Film. Trotz oder gerade wegen dieser Brüche und der Leerstellen im Drehbuch könnte dieses Porträt eines schwer versehrten und so einsamen Mannes kurz vor dem Kollaps erschütternder nicht sein. Strukturell ist der Film sogar nachgerade vollkommen: Wenn das Ende naht, wird es immer ruhiger, still zum Teil. Bis da nur noch das ist, was Brandon in sich hat: Leere. Und von diesem Nullpunkt aus nimmt McQueen dann Anlauf zum durch Mark, Bein und Knochen gehenden Finale einer menschlichen Tragödie, die auch durch die Distanz des Regisseurs zu seiner Hauptfigur verstört: ein irres Taumeln durch das Fegefeuer einer hohlen Nachtwelt, die alles und doch nichts zu bieten hat.