Letzte Ausfahrt Acapulco

Sonne, Strand, Bier – nur anders: Tim Roth spielt im existenziellen Filmpuzzle «Sundown» des mexikanischen Regieprovokateurs Michel Franco einen Mann im weltabgewandten Dämmerzustand. Was man damit anfangen soll? Das muss man schon selbst rausfinden.

Tim Roth im Film Sundown

Ascot-Elite

von Sandro Danilo Spadini

Nett haben es die Bennetts hier: der Himmel blau, das Meer türkis, die Drinks kühl, das Steak premium. Und hat die Bonzenfamilie aus London sonst noch irgendeinen Wunsch, so wird er ihr vom dienstbeflissenen Hotelpersonal von den Lippen abgelesen und fix wie nix erfüllt. Die Bennetts: Das sind der apathische Neil (Tim Roth) und die aufbrausende Alice (Charlotte Gainsbourg) sowie die praktisch schon erwachsenen Kinder Colin (Samuel Bottomley) und Alexa (Albertine Kotting McMillan); und irgendetwas an ihnen ist komisch. Was, das lässt der mexikanische Kritikergünstling Michel Franco, der zuletzt im Klassenkampf-Thriller «New Order» mit dem Zweihänder provozierte, in seinem siebten Regiewerk die längste Zeit offen. Ja, sogar wie die vier verwandtschaftlich zueinander stehen, wird erst kurz vor Halbzeit des lediglich 82-minütigen existenziellen Filmpuzzles «Sundown» enthüllt. Und das ist dann fast schon wie ein Keulenschlag: dieses freimütige Herausrücken von Informationen, von harten Fakten obendrein – klar und deutlich artikuliert. Denn gesprochen wird hier sonst nicht viel – und das liegt nur bedingt daran, dass die Bennetts des Spanischen nicht mächtig sind und die gerne ein wenig aufdringlichen Einheimischen höchstens gebrochen Englisch parlieren. Eines aber immerhin wird früh verkündet, wenn auch nicht länglich ausformuliert: Daheim in England hat die Mutter das Zeitliche gesegnet; Alice ist komplett ausser sich und steht völlig neben sich, derweil Neil die Schreckenskunde doch eher stoisch zur Kenntnis nimmt. Weil es aber eben Alice zu sein scheint, die hier den Takt durchgibt, sitzt man da schon praktisch im Flieger Richtung Heimat. Oder besser theoretisch – merkt Neal doch beim Check-in, dass er seinen Pass im Hotel vergessen hat. Derweil also Alice mit den Kindern Acapulco hinter sich lässt, kehrt Neil in die Stadt zurück und setzt seine Ferien scheinbar unbeeindruckt fort: zwar nur mehr in einem Lotterhotel, dafür aber auf unbestimmte Zeit, wie es scheint. Denn das mit dem Pass – das war eine Lüge. Und irgendwann hat er auch gar keinen Bock mehr, Alice am Telefon anzuschwindeln, und schaltet das Handy aus, auf dass ihn nichts und niemand mehr stört in seiner genügsam und tiefenentspannt, aber immer auch etwas lebensmüde und weltabgewandt wirkenden neuen Routine, die aus Müssiggang am Strand, Bierseligkeit unter der Sonne und Schäferstündchen mit der Verkäuferin Berenice (Iazua Larios) besteht.

Angenehm ansteckend

Okay, Neal will also seine Ruhe haben und lässt sich ein wenig gehen. Aber warum? Wieso? Weshalb? Darüber lässt sich nur mutmassen – oder aber man lässt es einerlei sein und wendet sich anderen, womöglich wichtigeren Fragen zu. Dies umso mehr, als da über weite Strecken eh nicht allzu viel geschieht, was an Neals Dämmerzustand rütteln würde. Doch dieser Dämmerzustand, der wirkt auf eine überraschend angenehme Weise ansteckend; und auch wenn man kaum etwas über Neal in Erfahrung zu bringen vermag, so kommt man gleichwohl nicht ganz von ihm los – und sei es nur, weil man darauf spekuliert, ihn dereinst vielleicht doch noch besser kennen zu lernen, irgendwann einmal. Das – so viel sei bereits mal ausgeplaudert – wird zwar nicht geschehen; aber ein bisschen was wird unter der Sonne Acapulcos schon noch gehen: offenkundige Dinge, die «Sundown» kurzzeitig zum Thriller zu machen scheinen; und sowieso hintergründige Sachen, die einen grüblerisch an Frisch und Camus denken lassen mögen. Und eine Antwort auf die alles entscheidende Frage, was diesen seltsamen Menschen antreibt, aufreibt, auslaugt und ablöscht, wird dann beinahe wider Erwarten tatsächlich auch noch nachgereicht: kurz und knapp und mit dem Potenzial, einen zu erschüttern und niederzuschmettern – je nachdem, welche Möglichkeiten man vorgängig im Kopf durchgespielt hat und wie sehr man sich emotional hat einbinden lassen.

Perfekte Performance

Was für ein lakonischer Film das doch ist! Und was für ein Kontrast mithin zum keine Fragen und Leerstellen offenlassenden Vorgänger «New Order», der wie «Sundown» ein Jahr zuvor in Venedig seine Premiere hatte und dort dem in seiner mexikanischen Heimat weit weniger wohlgelittenen Franco den Grossen Preis der Jury einbrachte. Ein für Franco untypischer Film ist das aber mitnichten. So bedient er nicht nur dessen Standardthemen – vom Tod über die Familie bis zu Klassenfragen –; er schaut auch aus und fühlt sich an wie ein Franco-Film. Dies trotz der exotischen Location, die Franco mal hochglanzstilisiert in ihrer nur noch sporadisch aufblitzenden Pracht fotografiert, die er meist aber gnadenlos als vom Ruhm und Glamour vergangener Tage verlassene und von allerlei Gesindel bevölkerte Zweitklassdestination ablichtet – und die man gerade auch deshalb gut und gerne als dritten Protagonisten von «Sundown» adeln darf. Die anderen beiden stehlen ihr freilich trotzdem die Show. Charlotte Gainsbourg geht als überspanntes Arbeitstier nicht nur verbal auf Konfrontationskurs mit Roths Mann ohne Eigenschaften; sie stellt dessen Lethargie vielmehr auch jene emotionale Zerrissenheit entgegen, für die sie von so vielen intellektuellen Regisseuren geschätzt wird. Auch Roth, für den «Sundown» die zweite Zusammenarbeit mit Franco markiert, steht ja seit je hoch im Kurs bei namhaften Filmemachern. Doch gerade in den letzten Jahren hat er sich des Öfteren – zu oft! – Auftritte geleistet, die ein gewisses Unverständnis dafür aufkommen liessen, weil sie regelrecht peinlich waren: etwa als Fürst Rainier in «Grace of Monaco», als wohlfeile Christoph-Waltz-Kopie in «The Hateful Eight» oder als plumper White-Trash-Killer in «Twin Peaks: The Return». Grausliches Overacting war das – im durchsichtigen Bestreben, sich als kauziger Charakterkopf zu profilieren. In «Sundown» indes hat der 61-Jährige einen Auftritt, der in die genau umgekehrte Richtung geht: Was Roth hier macht, wie er sich im Strandstuhl fläzt, teilnahmslos an der Bierflasche nuckelt, um dann in gebückter Haltung in seinen Flip-Flops zurück zum Hotel zu schlurfen und ins Nichts zu starren, das läuft nur noch bedingt unter Schauspielern; es ist das eine fast schon meditative Übung in Zurückhaltung. Aber ob das eine Kunst ist? Auch dies: schwer zu sagen. Jedenfalls ist es eine Performance, die perfekt passt zu diesem speziellen Film. Auch, weil sie wie dieser haften bleiben wird.