Zuletzt kommt das Fressen

Im Kammerspiel «The Whale» tritt Regiemagier Darren Aronofsky zugunsten der Story und seines Stars quasi in den Ausstand. Das ist maximal wirkungsvoll, auch dank Comeback-Kid Brendan Fraser, der seinen Oscar für die Darstellung eines 300-Kilo-Kolosses am Ende eines tragischen Lebens selbstverständlich redlich verdient hat.

Brendan Fraser im Film The Whale

Pathé Films

von Sandro Danilo Spadini

Er sei nicht immer so gewesen; die Dinge seien irgendwann ausser Kontrolle geraten, erklärt Charlie (Brendan Fraser). Wobei man dieses Irgendwann freilich präzise terminieren kann: Es war nach dem Tod seines Lebenspartners, als der inzwischen nurmehr online unterrichtende Englischprofessor anfing, sich systematisch zu Tode zu fressen. Fast 300 Kilo wiegt er jetzt, er schwitzt, er keucht, er röchelt, und der Blutdruck ist gerade wieder in eine Höhe geschnellt, wo man eigentlich unverzüglich den Notruf verständigen müsste. Doch dagegen sträubt sich Charlie. Ins Krankenhaus will er unter gar keinen Umständen. Weil er nicht krankenversichert sei. Und weil er sich nicht derart verschulden wolle. Geht es nach seiner Pflegerin Liz (Hong Chau), existiert aber keine Alternative dazu. Bis zum Wochenende sei er tot, wenn er sich jetzt nicht einliefern lasse, sagt sie ihm in barschem Ton. Und tatsächlich erweist sich das sogar noch als beinahe zu optimistisch, wäre es doch schon vorher zweimal fast so weit gewesen: Beim Onanieren zum Porno auf dem Laptop gibt das Herz um ein Haar auf; und beim gierigen Verschlingen eines Sandwichs entrinnt er nur knapp dem Erstickungstod. Auf derlei Warnsignale kann Charlie indes verzichten. Auch er weiss, dass das, was Liz gesagt hat, keine rhetorische Figur war. Auch er weiss, dass er sterben wird. Dass er bald sterben wird. Sehr bald. Und deshalb sieht er jetzt die Zeit gekommen, reinen Tisch zu machen. Es doch noch mal bei seiner Tochter Ellie (Sadie Sink) zu versuchen. Die war gerade achtjährig, als er sie und die mittlerweile allzu trinkfreudige Mutter (Samantha Morton) sitzen liess – «weil du einen Studenten ficken wolltest», wie Ellie keifen wird. Neun Jahre ist das her, und sie macht ihm subito unzweideutig klar, dass sie ihm mitnichten verziehen hat. «Du bist ekelhaft», schnauzt sie ihn an und meint damit nicht seine äussere Erscheinung. «Ich werde keine Zeit mit dir verbringen», bellt sie weiter und macht dann eben das: hängt hässig bei ihm daheim rum und nötigt ihn, ein Essay für sie zu schreiben, damit sie nicht von der Highschool fliegt.  
 
Von Schuldgefühlen zerrissen
 
«The Whale» ist der achte Film von Darren Aronofsky; und der kontroverse Filmmagier, der uns visuelle Extravaganzen wie «Requiem for a Dream», «Black Swan» oder «Mother!» um die Ohren gehauen und in die Visage gepfeffert hat, denkt hier nicht daran, zu verbergen, dass es sich dabei um eine Theaterverfilmung handelt. Basierend auf dem Stück von Samuel D. Hunter von 2012, hat der so stilbewusste Mann aus Brooklyn ein auf Grau, Braun und Grün reduziertes und in ein televisionär verengtes 4:3-Bildformat gepferchtes Kammerspiel geschaffen, dessen theatrale Wurzeln er nachgerade lässig zur Schau stellt – und bei dem er als Regisseur zugunsten der Story und seines Stars gleichsam in den Ausstand tritt. Als Bühne fungiert Charlies Wohnung, das Licht gedämpft, die Fensterläden geschlossen, nicht eben ein Bijou, aber immerhin recht sauber und ordentlich. Es treten da auf: Charlies Besucher; neben Liz und Ellie sind das namentlich noch seine Ex, ein Pizzabote (Sathya Sridharan) sowie der hoch motivierte junge Missionar Thomas (Ty Simpkins), der glaubt, dass dieser seinem Ende zustrebende Koloss spiritueller Führung bedürfe, und der deshalb immer wieder aufs Neue bei Charlie aufkreuzt, obwohl der doch so niederschmetternde Erfahrungen gemacht hat mit ebenjener Endzeitsekte, die vermeintlich Erlösung verheisst. Doch Charlie möchte das nicht, er will nicht gerettet werden, und er scheint es auch nicht zu brauchen; denn wiewohl er von Schuldgefühlen zerfressen und nie über den Tod seines Partners hinweggekommen ist, wirkt er wie jemand, der sein Ende akzeptiert hat und mit sich ins Reine gekommen ist. Der immer zuerst das Gute sieht. Aber vielleicht ist das auch nur ein Schutzmechanismus und täuscht das bloss und wirkt nur so ob der Orientierungslosigkeit, mit der die Gestalten um ihn herum durchs Leben taumeln. Was diese überdies eint: Sie ertragen Charlie nicht. Der Pizzabote seinen Anblick nicht, der Missionar sein Schwulsein nicht, die Ex seinen Optimismus nicht, die Pflegerin seine Sturheit nicht und die Tochter sein Bedauern nicht. Doch Charlie, der von seinen Studenten als Erstes und Einziges Ehrlichkeit und Authentizität einfordert, ficht das nicht an. Er bleibt unbeirrt. Findet Ellie grossartig, obwohl sie eigentlich ziemlich grauenhaft ist, schreckliche Sachen sagt und hässliche Dinge tut: Die Schule sei «Bullshit», sie hasse alle, die Menschen seien alles Arschlöcher. Solcherlei halt. Und auf ihrer Facebook-Seite hat sie keine Freunde, dafür Bilder von einem toten Hund und ein Foto von Charlie mit einem widerlichen Kommentar. Ihre Mutter meint denn auch, sie sei böse; Liz zieht immerhin in Erwägung, dass sie einfach ein normaler verrückter Teenager sei. Doch Charlie hält sie für klug und einzigartig. Und: für ehrlich und authentisch. Für ihn das höchste Gut überhaupt.
 
Traurige Würde, feiner Humor
 
Ob «The Whale» auch ehrlich und authentisch ist ­– dazu gibt es zumindest zwei Meinungen. Dass Brendan Fraser einen Prothesenanzug trägt und als Heterosexueller einen Schwulen spielt, kam nicht überall gut an. Aber damit muss man sich ja nicht weiter rumplagen. Oder soll sich John Hurt etwa jetzt noch postum für seine Darstellung in «The Elephant Man» entschuldigen und Tom Hanks seinen Oscar für «Philadelphia» zurückgeben? So weit kommt es noch; und nein, der Goldmann, den Fraser gerade gewonnen hat, ist nicht gestohlen. Er sei diesem vom Leben selbst schwer gebeutelten Comeback-Kid gegönnt, und er ist redlich verdient (so verdient, wie es damals vor 15 Jahren ein Triumph von Mickey Rourke gewesen wäre, dem Aronofsky in «The Wrestler» – einer anderen Vater-Tochter-Geschichte – eine ähnliche Plattform zum Comeback geboten hatte). Denn der «The Mummy»-Star allein ist es, der «The Whale» konsequent über Wasser hält – der mit seiner traurigen Würde und seinem feinen Humor verhindert, dass der Film bisweilen ins Voyeuristische absäuft und sich allzu freudig im Elend suhlt. Was hier hingegen nicht vollends funktioniert, sind die ständigen Verweise auf «Moby Dick». Das wirkt zu gesucht, bleibt zu verkopft. Viel ergiebiger ist es, wenn Aronofsky sich zumindest thematisch treu bleibt und wie etwa bei den siechenden Süchtigen in «Requiem for a Dream», der kaputten Kampfmaschine in «The Wrestler» oder der besessenen Balletttänzerin in «Black Swan» das Schreckensbild einer körperlichen Selbstzerstörung zeichnet. Schonungslos wie immer ist das. Womöglich auch diesmal wieder ein bisschen plakativ. Gleichzeitig aber von einer mitfühlenden Menschlichkeit, die doch ein wenig überrascht. Die mitunter sogar überwältigt. Und einen endlich regelrecht übermannt.