von Sandro Danilo Spadini
«Darf ich dich auf die Backe küssen?» – «Ja, das geht in Ordnung.» Die erste Interaktion zwischen der pensionierten Religionslehrerin Nancy (Emma Thompson) und dem feschen Jüngling
Leo (Daryl McCormack) kann nicht wirklich als sexy taxiert werden. Aber warum sollte es hier auch kribbeln, prickeln und knistern? Das, was sich im Türrahmen eines sterilen
Mittelklassehotelzimmers abspielt, ist schliesslich im Grunde nichts weiter als die Initiierung einer geschäftlichen Transaktion. Denn Leo, der eigentlich nicht so heisst, ist das, was man früher
einen Callboy und heutzutage einen Sexarbeiter nennt. Er wurde von Nancy, die ebenfalls anders heisst, für zwei Stunden gemietet, um gegen eine Geldsumme einen erotischen Service an ihr zu
verrichten. So schaut das aus, und daran lässt der mit sanfter, Selbstvertrauen verströmenden Stimme zugleich herzlich und sachlich informierende Sohn aus einem strikten irisch-katholischen Haus
denn auch nie den Hauch eines Zweifels. Nötig sollte das ja im Prinzip nicht sein, zumal Nancy durch und durch der rationale Typ ist: eine, die in ihrem Leben nach eigener Aussage nie je etwas
Interessantes gemacht und sich stets an die Regeln gehalten hat. Aber jetzt, in diesem merkwürdigen Moment, ist sie das reinste Nervenbündel, gepeinigt von Angst, Scham und schlechtem Gewissen.
Wie lange er das denn schon mache, fragt sie zaghaft. «Schon eine Weile. Lange genug, um gewisse Dinge zu wissen», antwortet der überraschend kultiviert und eloquent auftretende Gigolo. Aber ob
das nicht erniedrigend und entwürdigend sei, schiebt sie fast schon verzagt nach. Überhaupt nicht. Er liebe seine Arbeit, beschwichtigt er. Und trotzdem ächzt sie: «Das ist schrecklich, das ist
falsch.» Um bald darauf dann doch klarzumachen, dass sie hier nicht nur zu reden gedenkt. Dass sie zwar noch nicht aus ihrer Haut kann, definitiv aber aus ihren Kleidern raus und von diesem
Pretty Womanizer wachgekitzelt werden möchte. Und dass sie, die noch nie mit jemand anderem als ihrem vor zwei Jahren verstorbenen Gatten Sex hatte und ihre Schülerinnen einst zu züchtigem
Gebaren ermahnte, das eine oder andere nachholen will. Denn ihr Verblichener, das war nicht eben ein Romeo und schon gar kein Casanova; was ein Orgasmus ist, weiss sie dementsprechend nur vom
Hörensagen. Und so hat sie nun eine erotische Wunschliste angefertigt – ja, physisch –, die sie mit Leo gerne abarbeiten würde.
Dynamisches Machtgefälle
Bei Nancy und Leo ist es also im Vorspiel ein ziemlich holpriges Abtasten – die 63-jährige Oscar-Preisträgerin Emma Thompson und der 34 Jahre jüngere «Peaky Blinders»-Newcomer Darly McCormack
haben derweil null Anlaufschwierigkeiten in Sophie Hydes Sexkomödie
«Good Luck to You, Leo Grande». Ein uneingeschränktes Vergnügen ist es, den beiden bei diesem tapsigen Tanz auf der Epilady-Klinge
zuzusehen: sei es in den lind komischen Passagen, die von Thompsons Verve und dem Pep der Dialoge in Katy Brands Skript leben, sei es in den tränenlosen Lebensgeständnissen, die bei ihr nach all
den verschwendeten Chancen und hergeschenkten Träumen naturgemäss üppiger ausfallen, oder sei es beim Philosophieren über das Wesen dessen, was Leo hier anbietet. Dass das zwischen den beiden so
gut funktioniert, liegt auch daran, dass das in solchen Situationen sonst übliche Machtgefälle hier kaum spielt und mitunter sogar umgekehrt wird: Nancy mag zwar das Geld und damit das Sagen
haben, Leo hat aber die Erfahrung und die Weisheit. Auch der Clash der Generationen, so amüsant er auch sein könnte, wird spätestens dann überwunden, als diese beiden so Ungleichen sich ihrer
Gemeinsamkeiten gewahr werden und sich die Dynamik im Laufe ihrer insgesamt vier Treffen allmählich verändert. Auf die Spitze treiben es Hyde und Brand, die australische Regisseurin und die
englische Drehbuchautorin, damit indes nicht. Ihr bühnenhaftes Zweipersonenstück mag zwar immer wieder mal an Robert Mulligans unvergesslich wunderbare Liebestragikomödie «Same Time, Next Year»
(1978) erinnern, in der sich Alan Alda und Ellen Burstyn über 26 Jahre hinweg einmal im Jahr im stets gleichen Hotelzimmer zum gesprächigen ausserehelichen Stelldichein treffen; eine ähnlich
intensive oder gar amouröse Vertrautheit lassen sie zwischen Nancy und Leo aber nicht zu. Und das nicht nur, weil gerne im dümmsten Moment und in heiterer Regelmässigkeit die profansten Dinge
dazwischenfunken und die mühsam aufgebaute Stimmung killen – sondern weil das einfach nicht angebracht wäre und sowieso nicht der springende Punkt dieser Geschichte ist. Es geht hier schliesslich
nicht darum, dass Nancy ihr Liebesglück findet. Es geht darum, dass sie, die immer enttäuscht wurde und gleichzeitig Angst hat, selbst eine Enttäuschung zu sein, sich und ihre Sexualität doch
noch entdeckt und sich und ihren Körper zu schätzen lernt.
Unverkrampft und unvoreingenommen
Keine Frage und kein Zufall: «Good Luck to You, Leo Grande» wartet mit einigem auf, was den feministischen Zeitgeist zu erquicken vermag. Wie gross die Sympathien für diese mal luftige, mal
ernste und immer frische Komödie ausfällt, die sich zweifellos klug, charmant, unverblümt, unverkrampft und unvoreingenommen des aus dem heutigen Kino mehr oder weniger verbannten Themas Sex
erbarmt, hängt freilich wesentlich davon ab, ob man zweierlei überwinden kann: eine gewisse Doppelmoral, die sich schwerlich wegschmunzeln lässt angesichts der Frage, wie man wohl auf das frivole
Geschehen reagieren würde, wenn die Geschlechterrollen vertauscht wären. Und eine nicht unproblematische Romantisierung des horizontalen Gewerbes, etwa wenn Leo seinen Service schmachtend als
altruistische Berufung anpreist oder die Kamera mit lüsternem Blick seinen durchtrainierten unbehaarten Körper abtastet. Worüber es hingegen kaum zwei Meinungen geben kann: das gewinnende
Charisma, das dieser Daryl McCormack verströmt, und die gar noch vereinnahmendere Energieleistung von Emma Thompson, die sich in den orgiastischen Schlussminuten mit voll frontalem Körpereinsatz
auch noch das anerkennungsschwangere Prädikat «mutig» abholt. «Wir werden eine gute Zeit haben», hat Leo am Anfang prophezeit. Gelogen war das nicht.