Tonnenschwere 21 Gramm

Trotz einer dem Publikum einiges abverlangenden Erzählstruktur überzeugt das Drama «21 Grams» dank kunstvoll ungeschminkter Inszenierung und hoher Schauspielkunst auf ganzer Linie.

 

von Sandro Danilo Spadini

Mit seinem Erstling «Amores perros» glückte dem Mexikaner Alejandro Gonzáles Iñárritu auf Anhieb ein Kinojuwel, das nicht nur die Kritik begeisterte, sondern sich obendrein auch noch als veritabler Kassenerfolg entpuppte. «Amores perros» war Kino, wie es besser kaum geht: kunstvoll inszeniert, dank rauer Direktheit ans Herz, aber auch an die Nieren gehend, hohe Intensität und Glaubwürdigkeit ausstrahlend, gut gespielt, intelligent, dramatisch und jederzeit packend. Dass ein derart talentierter Regisseur, der sich bei seinem Debüt freilich mitunter doch ziemlich offenkundig an amerikanischen Vorbildern orientierte, früher oder später in den USA seine Karriere im Blickpunkt einer breiteren Öffentlichkeit fortsetzen würde, war abzusehen. Bereits mit seinem zweiten Film «21 Grams» ist Iñárritu in den USA angekommen – nicht mit Pauken und Trompeten, sondern vielmehr mit einem stillen Film, der trotz einiger Widerspenstigkeiten ohne Misstöne auskommt.

Die Macht des Bildes

Ohne künstlerische Zugeständnisse an die ach so triviale amerikanische Kinolandschaft und ohne Reibungsverluste, aber hinsichtlich des Inszenatorischen ein wenig gereift und das Draufgängerische (und bisweilen auch nachgerade Rohe) des Erstlings abstreifend, kreierte Iñárritu auch für «21 Grams» eine Bildsprache, die ohne jeglichen Popanz und Hochglanz auskommt, dabei aber in ihrem gleichsam naturalistischen oder zumindest mit den Konventionen des populären US-Kinos brechen wollenden Grundton niemals angestrengt und aufgesetzt wirkt, sondern durchaus von der Liebe zum stilistisch Ausgeklügelten beseelt ist und sich stets in den Dienst der Handlung stellt. Die dergestalt hergestellte Symbiose ist denn auch – wie so oft – der Schlüssel zum Erfolg, hätte doch die zwar zu Herzen gehende, selbiges aber nicht mit brachialer Gewalt zu zerreissen beabsichtigende Story, deren Grundkonstellation Iñárritu fast schon aufreizend offensichtlich aus «Amores perros» importiert hat, ohne das ungeschminkte, grobe und gleichzeitig wiederum überaus kunstvolle Bildmaterial leicht ins gar Melodramatische kippen können.


Perfekte Schauspielerkunst

Die Protagonisten der drei durch einen tragischen Autounfall verknüpften, ansonsten aber über weite Strecken unabhängig voneinander ablaufenden Geschichten von «21 Grams» werden in ebenso dem Ganzen dienlicher, zurückhaltender und in die Nähe schauspielerischer Perfektion gelangender Weise verkörpert von Sean Penn und den in den Kategorien «Bester Nebendarsteller» bzw. «Beste Hauptdarstellerin» für den Oscar nominierten Benicio Del Toro und Naomi Watts. Penn, ganz der Könner, als der er gerade mit dem Golden Globe für seine Rolle in Clint Eastwoods «Mystic River» ausgezeichnet wurde, gibt einen Todkranken, dessen Zeit auf unserem grossen blauen Planeten dank einem Spenderherz unverhofft verlängert wird. Selbiges erhalten hat er vom Ehemann von Watts’ Figur, der bei besagtem Autounfall ums Leben gekommen ist, welchen wiederum ein neuerdings Gott zugewandter ehemaliger Kleinkrimineller (Del Toro) verursacht hat. Allesamt sind sie glaubwürdig und hervorragend gespielt, diese drei Figuren, deren menschliche Schwächen Iñárritu unsentimental, aber nicht teilnahmslos in den Fokus rückt, wodurch es leichter wird, sie zu verstehen, aber schwerer, sie zu lieben.

Kein einfacher Film

Wie schon in «Amores perros» wird auch in «21 Grams» eine reichhaltige Palette von tief schürfenden Fragen in bewusst bestimmter, wenngleich verhältnismässig unaufdringlicher Art dargeboten: Die Suche nach innerem Frieden, die unauslöschliche Schuld und – dieses Mal weniger latent – das Religiöse sind die tragenden Motive. «21 Grams» ist gewiss keine leichte Kost, sondern ein Film, auf den man sich einlassen muss. Auch die vordergründig chaotische chronologische Erzählstruktur, die einiges an Konzentration erfordert und über deren Sinn sich treffend streiten liesse, macht es einem gewiss nicht einfacher. Grossen Künstlern seien solche Extravaganten jedoch gestattet. Und zumindest dabei, ein grosser Künstler zu werden, ist dieser Alejandro Gonzáles Iñárritu bereits nach seinem zweiten Film, der zum Besten gehört – oder womöglich gar das Beste ist –, was im Jahre 2003 produziert wurde.