von Sandro Danilo Spadini
An diesem Punkt haben die meisten Geschichten längst geschlossen. Denn an diesem Punkt ist das grösste Drama schon vorbei, sind die dicksten Tränen schon geweint, ist die tiefste Krise schon
überwunden. An diesem unvermindert traurigen Punkt im Leben von Becca (Nicole Kidman) und Howie (Aaron Eckhart) setzt die Theateradaption «Rabbit Hole» jedoch erst ein: Acht Monate ist es her,
dass die beiden ihren vierjährigen Sohn verloren haben. Seinem Hund war er nachgerannt, der Autofahrer hatte ihn nicht gesehen. Geschehen ist es vor der Haustüre, in einer dieser
Vorortssiedlungen mit ihren programmatischen weissen Gartenzäunen. Ein ebensolcher steht auch vor Beccas und Howies Haus, gleichsam als Schutzwall gegen das Böse da draussen und als Versprechen
einer heilen Welt hier drinnen. Doch er war nicht hoch genug, nicht an diesem schrecklichen Tag vor acht Monaten. Und auch heute ist er es nicht, aber das ist vielleicht ganz gut so. Schliesslich
stehen Becca und Howie vor der Rückkehr ins Leben, das von draussen immer lauter ruft, in den Alltag, der sich immer vehementer zurückmeldet, in die Normalität – wenn sie es denn zulassen.
Gemeinsam könnten sie es schaffen, das spürt man, das hofft man zumindest, nein das weiss man irgendwann. Doch sind Becca und Howie derzeit nicht am gleichen Ort, nicht im gleichen Stadium ihrer
Trauer. Ihre Strategien der Bewältigung sind denn auch grundverschieden, und so lange sie diese nicht koordinieren, steigen die Spannungen und sind sie gefangen in diesem Limbus, wo die Zeit der
Tränen vorbei ist und die Zeit zum Weitermachen noch nicht gekommen ist.
Die ganze Gefühlspalette
Solange die beiden nicht wieder zueinanderfinden oder dies wenigstens versuchen, so lange ist «Rabbit Hole» nicht so sehr die Geschichte von Becca und Howie als vielmehr die Geschichte von Becca
und die Geschichte von Howie. Und es ist der Film von Nicole Kidman. Mit einer (Oscar-nominierten) Meisterleistung knüpft die 43-Jährige dort an, wo sie vor fünf, sechs Jahren war – vor einer
Reihe unglücklicher Rollenwahlen und einer Unzahl mimisch hinderlicher Botox-Spritzen. So motiviert ist Kidman hier, dass sie quasi die komplette Gefühlspalette abruft. Da ist, klar, Trauer,
wiewohl eher dezent. Da ist Wut, ist Gereiztheit, ist Sarkasmus: etwa wenn sie die faselnde Mutter (Dianne Wiest) anherrscht, die sie in den Wahnsinn treibt; die übermütige Schwester (Tammy
Blanchard) schilt, die sie zum Verzweifeln bringt; die Frommen in der Gruppentherapie brüskiert, die ihr zuwider sind. Da sind aber auch Irritation, Verunsicherung, Bemühen – gerade im so
schwierigen Umgang mit Howie und bei der Annäherung an den jugendlichen Unfallverursacher (ein Traumdebüt von Miles Teller). Und da ist, in den schönsten Momenten des Films, auch Freude, ist
Humor, ist, endlich, Zuversicht. Und für jede dieser Gefühlsregungen und Gefühlsaufwallungen und Gefühlseruptionen hat Nicole Kidman das passende Rüstzeug dabei. Im welken grauen Gewand ist sie
nicht die schillernde Ikone, sondern in der Tat die trauernde Hausfrau aus den Suburbs.
Ein gewisser Optimismus
Mit dem Newcomer John Cameron Mitchell («Shortbus») hat Kidman hier auch wieder mal einen Regisseur, der weiss, wie man sie einsetzt, und der ihr Freiraum gibt. Vertrauen hat Mitchell freilich
nicht nur in seinen Star, sondern auch in sein Skript. Dies mit Recht, schafft Autor David Lindsay-Abaire bei der Adaption seines pulitzerprämierten Stücks doch ein Kunststück: zu verhindern,
dass ob all der Spannungen und der stets prominent im Raum stehenden Trauer das Publikum mit in die Krise stürzt. So ist man zwar meist auf Nadeln und leidet mit; aber es ist keine Tortur und
mitnichten entmutigend. Was stattdessen haften bleibt, ist ein Urvertrauen darin, wie tief die Beziehungen und wie stark die Bindungen zwischen nahestehenden Menschen sein können. Um das zu
demonstrieren, setzt Mitchell ganz auf die Chemie in seinem Darstellerensemble. Und um es zu unterstreichen, wartet er vermehrt mit idyllischen und sonnendurchfluteten Bildern auf, die einen
gewissen Optimismus verströmen. Für alles andere schliesslich hat er Nicole Kidman.