von Sandro Danilo Spadini
Er solle Vertrauen haben, und er solle offen und ehrlich sein: Das wird Henry (Sean Harris) von den Leuten um Mark (Joel Edgerton), seinem neuen Bruder im Geiste und «Partner in
Crime», ein ums andere Mal ans Herzen gelegt, ja regelrecht eingebläut. Gut gemeint soll das sein, aber wenn jemand dermassen insistiert, sollte man vielleicht doch besser hellhörig werden. Wir
indes haben natürlich leicht reden, denn wir wissen da schliesslich längst, dass Mark und seine Spiessgesellen es nicht gut meinen mit Henry, dass sie ihm vielmehr eine Falle stellen wollen. Das
hat uns die erste Wendung in dem von einem spektakulären wahren Kriminalfall inspirierten australischen Thriller
«The Stranger» schon recht bald enthüllt: Das mit der kriminellen Organisation, in der Mark eine Position auf mittlerer Stufe
bekleiden soll, ist nur vorgetäuscht; in Wahrheit ist er Undercover-Cop und ermittelt im Fall eines Knaben, der vor acht Jahren, am 12. Mai 2002, am helllichten Tag verschwunden ist, was damals
ganz Australien in Bann gezogen und die halbe Polizei des Landes in Beschlag genommen hat. All diese Geheimnistuerei, dieses ewige Vortäuschen, dieses Wandeln zwischen den Welten – das hat
freilich seinen Tribut gefordert. Da ist es denn auch kein Wunder und keine Show, dass sich Mark so blind mit diesem Henry versteht, dass diese beiden wortkargen Haudegen so gut miteinander
können: zwei verlorene Seelen, in deren Herzen pechschwarze Nacht herrscht, einer bärtiger als der andere, kantiger, knorriger, nach Halt suchend, nach Sinn suchend; abgebrannte, ausgebrannte
Männer mit einem Rucksack voller Blei, die «auf der anderen Seite» waren und dabei irreparablen Schaden genommen haben. Und um diese Melancholie noch weiter einzuschwärzen, lässt es Regisseur
Thomas M. Wright öfters Nacht sein um die beiden, schickt sie raus in die Dunkelheit, die Finsternis, die mondlose Düsternis, auf Fahrten durch das karge Niemandsland nach nirgendwo, um
irgendetwas zu erledigen.
Verwirrung stiften, Unbehagen erzeugen
Was das genau sein könnte, bleibt dabei undurchsichtig: vielleicht etwas mit Drogen, sicher aber nichts mit Gewalt. Denn Gewalt werde er nicht anwenden, stellt Henry schon vorweg nicht einmal,
sondern zweimal klar. Es spielt das aber auch keine Rolle; entscheidend ist hier nicht, was geschieht, sondern wie es geschieht. Es geht um Stimmung, nicht um Handlung, darum, die Geschichte zu
erfahren, nicht um sie zu entschlüsseln. Das indes ist ohnehin eine nicht geringe Herausforderung, zumal in der ersten Hälfte der 117 Minuten Spieldauer, in der die Informationen nur spärlich
fliessen in knausrigen Häppchenszenen, die nie länger dauern als absolut zwingend und in denen immer nur das Nötigste gesagt wird. Und die mit einer scheinbar unzusammenhängenden Abfolge und
ihrer groben Montage darauf aus zu sein scheinen, Verwirrung zu stiften, zu verhindern, dass wir es uns gemütlich machen, und zu gewährleisten, dass wir wachsam bleiben. Um die Gefahr gar nicht
erst aufkommen zu lassen, dass wir wegdriften, streut Wright in seine eigentlich so ruhige, nachgerade stille und bisweilen gleichsam meditative Erzählung wohldosierte Weckrufe ein: Eruptionen
aus dem schwarzen Nichts, plötzliche heftige Aussetzer, böse kleine Ausraster, die die ansonsten nur angelehnte Tür zur inneren Hölle der Antihelden mit einem Donnerschlag aufreissen und ein
grelles Licht werfen auf das von aller Anfang an gespenstisch wabernde Grauen. Da werden dann kurz die Albträume fassbar, manifestiert sich das Unbehagen ganz handfest, das davor so kunstfertig
heraufbeschworen wurde: mit den schaudererregenden Schauplätzen, einem aufmerksamkeitsheischenden Dröhnen, dem maximal unheilverkündenden minimalistischen Soundtrack, der arglistverheissenden
herumschleichenden Kamera, den rätselaufwerfenden grobkörnigen Archivschnipseln, den markerschütternden abrupten Schnitten und nicht zuletzt dem abgründeaufreissenden Spiel der gleichermassen
brillanten Hauptdarsteller Joel Edgerton («The Gift») und Sean Harris («Mission: Impossible – Fallout»). Dass in all das hinein immer wieder ganz alltägliche Episoden geworfen werden, vermag
derweil kaum für Entspannung zu sorgen. Vielmehr vermutet man selbst da wieder instinktiv das Schlimmste.
Seriöses Genreschaffen
Eine solche Atmosphäre, ein solches Klima der permanenten Bedrohung zu erzeugen – das ist quasi die Krönung in diesem Genre. Dass der australische Fernsehschauspieler Thomas M. Wright («Top of
the Lake») bereits in seinem zweiten Spielfilm eine derart hohe, an seinen Landsmann Justin Kurzel («The Snowtown Murders», «Nitram») erinnernde Handwerkskunst an den Tag legt, nötigt den
entsprechenden Respekt ab. Fast noch beeindruckender ist freilich, mit welch souveräner Selbstbeherrschtheit dem Jungregisseur und -drehbuchautor die Gratwanderung zwischen Originalität und
Angebertum glückt. So ist die Handlung zwar kunstvoll konstruiert; sie wirkt aber nie künstlich aufgeblasen. Und wenn irgendwo draussen in der nächtlichen Wüste ein Auto brennt, so ist das wohl
akkurat arrangiert, aber immer noch in der rauen Realität verwurzelt, und es geschieht nicht zum protzigen Selbstzweck, sondern stets im Dienste einer höheren, hehreren Sache: eines seriösen
Genreschaffens, das in den besten Momenten an Meilensteine wie «Zodiac» oder «Prisoners» gemahnt und in den seltsameren einen Paul-Thomas-Anderson-Vibe verströmt. Wright hat dann am Ende denn
auch die Weisheit, den nachtgetränkten und ansonsten in matten Farben gehaltenen Film auf der Zielgeraden in konventionellere Bahnen zu lenken. Womit aber nicht gesagt sein soll, dass keine
Fragen offenblieben. So viel geheimnisvolle Verwirrung muss dann doch sein.