von Sandro Danilo Spadini
Das Rauchen hat ihm die Frau verboten, und schlafen kann er seit Längerem auch nicht mehr wirklich. Aber ansonsten ist Polizei-Hauptkommissar Hae-joon (Park Hae-il) einigermassen im
Reinen mit sich und dem Leben. Hae-joon ist ein Mann, der es ordentlich und organisiert mag. Zwölf Taschen hat er sich in sein Sakko einnähen lassen, sechs weitere in die Hose: auf dass er immer
alles schön zur Hand hat, was er vielleicht brauchen könnte in der Hitze des Gefechts. Eine Verwirrung des Herzens kann so einen mithin ganz ordentlich aus der Bahn werfen. Und verwirrt ist sein
Herz zutiefst, als er es im Zuge seiner aktuellen Ermittlungen mit der chinesischen Immigrantin Seo-rae (Tang Wei) zu tun bekommt. Die so elegante wie mysteriöse Altenpflegerin ist die Witwe
eines Geschäftsmanns, der von einem mächtigen Kletterberg zu Tode gestürzt ist, und sie ist darüber hinaus die Hauptverdächtige in dem Fall, den Hae-joon zusammen mit seinem draufgängerischen
jungen Kollegen Soo-wan (Go Kyung-Pyo) mit der für ihn standesgemässen akribischen Sorgfalt bearbeitet. «Was für eine erstaunliche Frau», entfährt es dem erfahrenen Ermittler, nachdem sich
Seo-rae nicht im Geringsten schockiert gezeigt hat über die Kunde vom Ableben ihres Gatten. Zwar hat er auch Mitleid mit dem Toten, mehr noch aber ist er eingenommen von dieser potenziellen Femme
fatale, die so ganz anders ist als seine Frau, mit der er jetzt seit sechzehn Jahren und acht Monaten durchaus glücklich zusammen ist. Freilich sieht er sie auch nur einmal in der Woche, weil das
Paar in einem stets nebligen Städtchen an der Küste lebt und Hae-joon in der Metropole Busan seiner Arbeit nachgeht. Bislang war das kein Problem. Doch spätestens als der doch so gewissenhafte
Cop in seiner Bude in Busan für Seo-rae kocht, wirds brenzlig. Auch wenn es nun wenigstens so scheint, als habe deren Mann Suizid begangen. Scheinen allerdings tut hier noch vieles – was
tatsächlich ist, das ist wiederum eine ganz andere Sache.
Elektrisierend harmonierende Stars
«Decision to Leave» ist der nunmehr zwölfte
Film des südkoreanischen Meisters Park Chan-wook, des einstigen Filmkritikers, der sich mit seinen exquisit fotografierten und gerahmten Gewaltorgien einen ähnlich unzweifelhaften Ruf erdreht hat
wie drüben Quentin Tarantino. Indes ist der bald 60-Jährige schon länger nicht mehr der Filmemacher, der in der ersten Hälfte der Nullerjahre dank seiner «Vengeance»-Trilogie – bestehend aus
«Sympathy for Mr. Vengeance», dem Cannes-Gewinner «Oldboy» und «Lady Vengeance» – auch im Westen mit einem Mordsschlag auf dem Radar auftauchte. Schon im englischsprachigen Debüt «Stoker» (2013)
zeigte er sich mehr an der psychologischen Seite mörderischen Tuns interessiert; und in «The Handmaiden» (2016) war es dann überdies eine erotische Komponente, die den Film zu einem guten Teil
definierte. Mit «Decision to Leave», seinem ersten Film seit sechs Jahren und preisgekrönten vierten Cannes-Beitrag, verschreibt sich Park nun neben dem Film noir dem klassischen
Hollywood-Melodram im leinwandfüllenden Stile eines Douglas Sirk. Mit der melancholischen Obsession des männlichen Protagonisten, aber auch manch visuellem Wink und nicht zuletzt strukturell ist
das zuvörderst aber eine «Vertigo»-Hommage, so wie das grosse Vorbild Alfred Hitchcock schon in früheren Filmen Parks immer wieder präsent war (zuletzt mit «Shadow of a Doubt» in «Stoker»).
Analog zum Jahrhundertwerk des Master of Suspense ist auch «Decision to Leave» in ein Vorher und ein Nachher geteilt, und wie bei Hitchcock verblasst auch bei Park die Mordfrage zusehends
angesichts der emotionalen Stürme, die im Helden tosen. Der wird hier, in diesem steten Nebel, unheilbar und unheilvoll von der Vertigo, dem Schwindel und Taumel, erfasst – derweil wir gerade
auch dank der beiden trotz Sprachbarriere elektrisierend harmonierenden Stars, Park Hae-il («Memories of Murder») und Tang Wei (Lust, Caution»), in einen verführerischen Strudel gezogen
werden.
Wendungsreicher Sog in drei Akten
Ein solcher Sog hatte sich zunächst indes so gar nicht abgezeichnet. Die ersten Minuten von «Decision to Leave» sind regelrecht abgehackt. Da wird ohne jede Einführung in einem irren Tempo
unvermittelt von Minisequenz zu Minisequenz gesprungen, von Fall zu Fall gehüpft und von Ort zu Ort gehopst; unter wirren Wortwechseln werden Skurrilitäten serviert und immer wieder Smartphones
gezückt und Smartwatches genützt. Sehr unterkühlt das alles, aufgeräumt, wohlarrangiert und festgezurrt. Dann aber setzt bald einmal dieser wunderbar klassische, aber immer auch ein bisschen
entrückte Soundtrack von Cho Young-wuk ein, und die Magie bricht sich Bahn. Das Kühle wird allmählich von warmen Farben übertüncht, die ruckelige Erzählung von einer grossmeisterhaften formalen
Dichte eingehüllt, die kuriose Koketterie von schwarzem Humor erfüllt, die klinische Polizeiprozedur von einer bittersüssen Melancholie eingelullt. So betörend, bezirzend, bezaubernd sind die
optischen Reize, die wie immer bei Park nicht zuletzt vom Setdesign und der Kameraarbeit herrühren und sogar solch prosaische Dinge wie die Nutzung mobiler Technologie einschliessen, dass man
darob fast die Geschichte vergisst. Dabei wird auch die immer besser, klüger, spannender, wenn der ursprüngliche Fall nach einer guten Dreiviertelstunde abgeschlossen scheint und sich der Film
für sein Mitteldrittel quasi neu erfindet und dann für den letzten Akt gleich nochmals. So wendungsreich geht es hier schliesslich zu und her, dass irgendwann auch wir im Nebel verloren gehen und
von der Vertigo, dem Schwindel und Taumel, mitgerissen werden.