Auch ein Palast kann ein Gefängnis sein

Das exquisit ausgestattete Historiendrama «The Young Victoria» erzählt eine Geschichte voller Passionen und Palastintrigen. Als junge britische Monarchin brilliert Emily Blunt.

 

von Sandro Danilo Spadini

Das Erste, was man von Emily Blunt in der Rolle der Königin Victoria sieht, ist ein Gesichtsausdruck voll puren Entsetzens, barer Furcht, namenloser Verstörung. Es ist der 28. Juni 1838, es ist der Tag der königlichen Krönung in Westminster Abbey. Ein Jahr zuvor hatte Victoria als 18-Jährige den britischen Thron bestiegen, der durch den Tod ihres Onkels William verwaist war. Und was dieser Thronbesteigung an Selbstzweifeln und Palastintrigen vorausging, schildert der kanadische Regisseur Jean-Marc Vallée («C.R.A.Z.Y.») sodann in aller Ausführlichkeit und Komplexität in der ersten Hälfte seines Oscar-dekorierten Historiendramas «The Young Victoria»: Die designierte Nachfolgerin des kränkelnden und kinderlosen Königs William (Jim Broadbent) ist unter der Fuchtel ihrer Mutter (Miranda Richardson), die ihrerseits kontrolliert wird vom zwielichtigen Berater Sir John Conroy (der derzeit omnipräsente Mark Strong). Victoria ist gefangen in einem goldenen Käfig, fühlt sich wie eine Schachfigur in einem Spiel, das sie nicht spielen will. «Sogar ein Palast kann ein Gefängnis sein», hört man sie aus dem Off sagen. Und was sie auch sagt: Sie ist entschlossen, aus diesem Gefängnis auszubrechen, aus dem goldenen Käfig herauszufliegen.

Royale Schachpartie

Der Weg dahin, in die Unabhängigkeit, ist ein beschwerlicher. Doch Victoria wird ihn bekanntermassen bewältigen und Britannien so lange regieren wie kein Monarch, keine Monarchin vor ihr, nach ihr. Die Intrigen jedoch, die gehen auch nach ihrer Krönung weiter, teils mit denselben, teils mit neuen Protagonisten: Kaum hat sie sich befreit vom Einfluss ihrer Mutter, versucht der auf den Premierminister-Posten aspirierende Lord Melbourne (Paul Bettany) sie zu instrumentalisieren – und dies mit derart überzeugendem Charme, dass Victoria ihm bald aus der Hand frisst. Die plötzliche Intimität zwischen der Königin und ihrem wichtigsten Berater entfacht wiederum die Eifersucht der zweiten Hauptfigur – und weckt so den zwischenzeitlich in den Dornröschenschlaft gefallenen anderen wichtigen Aspekt dieses von Martin Scorsese mitproduzierten Historiendramas: den romantischen Plot mit dem nach der royalen Liebe lechzenden Albert von Sachsen-Coburg (Rupert Friend). Dieser markiert nun, in Halbzeit zwei, vermehrt Präsenz, um die zuvor noch etwas unbedarft und erst zart geknüpften Bande festzuzurren. Frei von Intrigen verläuft freilich auch der von amourösen Passionen beherrschte Teil des Films nicht. Denn auch Albert wird vom Machthunger anderer gesteuert und als Schachfigur eingesetzt in einer monarchischen Grossmeister-Partie. Wie Victoria von ihrer Mutter muss sich nun Albert von seinem Onkel emanzipieren, dem belgischen König Leopold – auf dass dem jungen Paar die gestutzten Flügel nachwachsen und es endlich zu fliegen beginnen kann.

Interessante Akzente

Es steht einiges auf dem Spiel in «The Young Victoria», es geschieht eine Menge. Und Vallée erfindet bei der Schilderung dessen das Genre mitnichten neu. Es ist hier alles zu finden, was man in einem Film dieser Art zu finden erwartet: die Audienzen in den Palästen, die Kostümproben in den Gemächern, die Tänze in den Salons, die Spaziergänge in den Gärten – Pomp und Gediegenheit in vertrautem Einklang. Der Kanadier punktet denn auch vornehmlich dort, wo die meisten sich auf historischem Parkett bewegenden Regisseure punkten: mit exquisitem Dekor, den Oscar-prämierten Kostümen und einer charismatischen Hauptdarstellerin, die gerade auch dann glänzt, wenn sie nichts sagt und ihre Mimik Bände sprechen lässt. Vallée setzt indes interessante Akzente, etwa mit inszenatorischen Paukenschlägen bei der Ouvertüre oder einer Sequenzenabfolge, die sich im genreinternen Vergleich nachgerade stakkatohaft ausnimmt. Ihm gleich tut es Drehbuchautor Julian Fellowes. Dessen Skript beschleunigt die Handlung immer wieder durch Auslassungen, was bisweilen irritiert, noch öfter aber erfrischt. Letztlich ist «The Young Victoria» zwar in erster Linie eine Geschichtsdoppellektion – eine jedoch, die das Auge zu entzücken und die Cineasten-Seele zu erquicken vermag.