Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Regisseur Rodrigo García widmet sich im Ensembledrama «Mother and Child» dem Thema Adoption. Auch dank toller Darstellerinnen ist ein Film voller Liebe und Leben entstanden.

 

von Sandro Danilo Spadini

Ein ganz bemerkenswerter Künstler ist der bei uns wenig beachtete Autorenfilmer Rodrigo García. Neckisch könnte man ihn einen Frauenversteher nennen, respektvoller einen Frauenregisseur in der Tradition George Cukors, Ingmar Bergmans oder Pedro Almodóvars. Erworben hat sich der in den USA schwergewichtig für den renommierten TV-Sender HBO wirkende Kolumbianer diesen Ruf mit seinen ersten drei Kinoarbeiten: dem Episodenfilm «Things You Can Tell Just by Looking at Her» (1999), der Interviewcollage «Ten Tiny Love Stories» (2002) und dem in Locarno prämierten Ensembledrama «Nine Lives» (2005). Hoch sensible, leicht melancholische Filme waren das: sanft, fast zärtlich inszeniert, klug, oft gewitzt erzählt. Qualitäten, die García trotz fehlenden Kleingelds auch für klingende Namen attraktiv zu machen scheinen. Mit Cameron Diaz, Holly Hunter, Glenn Close, Robin Wright Penn oder zuletzt – in dem fremdverfassten Misserfolg «Passenger» – Anne Hathaway begrüsste er jedenfalls schon manchen Star der gehobenen Gewichtsklasse am Set. Eine Tradition, die sich nun in «Mother and Child» fortsetzt – und nicht die einzige Tradition, die sich in seinem fünften Film fortsetzt.

Watts und Bening

Erzählt werden hier wiederum mehrere Geschichten parallel. Und wie so viele Ensemblefilme («Short Cuts», «Crash», «Valentine’s Day») spielt auch dieses multiethnische Drama in Los Angeles und dort vornehmlich im poesielosen Mittelklassemilieu. Die Protagonistinnen der drei ums Thema Adoption kreisenden Plots sind eine Anwältin, eine Physiotherapeutin und eine Bäckereibesitzerin, glanzvoll verkörpert von Naomi Watts, Annette Bening und Kerry Washington. Wiewohl der Film gerade auch von Paaren und werdenden Paaren handelt, haben hier klar sie, die Frauen, das Kommando. In Umkehrung der quasi natürlichen kinematischen Ordnung sind die Männer wie stets bei García mehr Hilfselemente, an denen die weiblichen Figuren modelliert werden. So wie Kanzleiboss Paul (Samuel L. Jackson), der von Watts‘ Elizabeth mit kühler Präzisionstechnik verführt und nach dem Sex wie ein Hund gelobt wird («Guter Junge»). Oder Teddybär-Typ Paco (ein deattraktivierter Jimmy Smits im Fat-Suit), der von Benings Karen ständig rüde attackiert wird und sich trotzdem in sie verliebt. Und Joseph (David Ramsey), der als Gatte von Washingtons Lucy meist schweigt und am Ende vielleicht die ehrlichste Figur des Films ist.

Komplex, nicht kompliziert

Elizabeth, Karen und Lucy: Sie sind an ganz unterschiedlichen Punkten in ihrem Leben, alle indes an einem Wendepunkt. Die Gegensätze und Gemeinsamkeiten ihrer Geschichten werden von García gerne und gekonnt gespiegelt: rein erzählerisch schon im Prolog, wenn er Elizabeth beim Vorstellungsgespräch mit Paul von einer hoffentlich kinderlosen Zukunft reden lässt, um gleich darauf Lucy und Joseph bei der Adoptionsvermittlung zu zeigen; und auch optisch bei Adoptivkind Elizabeth und der ihr unbekannten leiblichen Mutter Karen, die als 14-Jährige schwanger geworden war. Beide leiden sie unter der Vergangenheit, unter der verlorenen Zeit zusammen, sind darob schroff und biestig geworden und haben sich eine solch harte Schale zugelegt, dass die Sozialinkompetenz bisweilen ins nachgerade Psychopathische überschwappt. Es wird sich das ändern, nachdem García just zu Halbzeit ein paar Monate vorgespult hat. Fortfahren wird er in weiter gedrosseltem Tempo, aber wie ehedem bei Sonnenschein und zu dezenten Pianoklängen, mit einer Prise Witz und Erotik. Und mit einer meist statischen Kamera, die diese intimen Einblicke in urpersönliche Beziehungen nie aufdringlich erscheinen lässt. In Einklang steht das mit einem – dramaturgisch nicht immer perfekt verknüpften – Skript, an dem García zehn Jahre gefeilt hat: All das Universelle bis hin zur Religion verhandelt der Sohn von Gabriel García Márquez darin, ohne dabei ins zähe Psychologisieren und Philosophieren zu versinken. Und geradeso versteht er es, komplexe Emotionen herunterzubrechen, ohne sie zu trivialisieren. Ein Film voller Liebe und Leben ist es geworden, nicht immer realistisch, aber zutiefst menschlich.