von Sandro Danilo Spadini
«Es ist alles eine Illusion», hiess es zu später Stunde in dem mit logischen Mitteln auch schon nicht eben leicht zu entschlüsselnden, letztlich aber sehr wohl zu knackenden Vorgängerwerk
«Mulholland Dr.». Wenn uns David Lynch nun in «Inland
Empire» mit der ersten Sequenz also eine auf einer Schallplatte kreisende und kratzende Nadel präsentiert, sollte das nicht bloss als das selbstreferenzielle Zurückgreifen auf eines von noch
vielen wiederkehrenden stilistischen Lieblingssujets des «Zaren des Bizarren» abgetan werden; vielmehr scheint es opportun, der darin versteckten Botschaft gewahr zu werden: Es ist wiederum
nichts «live», es ist abermals alles eine Illusion.
Sein und Schein
Und bereits die folgenden Einstellungen nähren diesen Verdacht: Ein Mann und eine Frau, das Gesicht zur Unkenntlichkeit verschwommen, betreten ein Hotelzimmer – eine der bevorzugten Spielstätten
in den Filmen des David Lynch. Es wird über Sex geredet, die Sprache ist Polnisch. Den Vollzug des Akts kriegt der Zuschauer aber nicht mehr mit. Stattdessen sehen wir als Nächstes eine weinende
Frau. Sie schaut fern. Auf dem Bildschirm läuft eine Sitcom mit drei als Hasen verkleideten Menschen. Schnitt, und wir finden uns in einem palastartigen Raum, wo sich zwei ältere Männer – erneut
auf Polnisch – über Kryptisches unterhalten. Dann Los Angeles: eine ältere Frau, die auf eine Villa zuläuft, klingelt, hereingelassen wird. Sie spricht Englisch, mit osteuropäischem Akzent. Sie
sei die neue Nachbarin und wolle sich vorstellen, erläutert sie der aus der Tiefe des Raums erscheinenden Hausherrin. Und jetzt sind wir endlich bei ihr und bleiben für die nächsten fast drei
Stunden auch meist bei ihr. Irgendwie jedenfalls. Denn sie, die mit einem dubiosen Polen verheiratete Hausherrin Nikki (Laura Dern), ist Schauspielerin und wird sich in der Folge wandeln und
verwandeln. Derzeit arbeitet sie unter einem britischen Regisseur (Jeremy Irons) und an der Seite eines buhlerischen Kollegen (Justin Theroux) an einem alles abverlangenden und offenbar mit einem
Fluch belegten Projekt, ob welchem sie allmählich den Verstand zu verlieren droht. Immer tiefer steigert sie sich in ihre Figur hinein, bis sie (und mit ihr natürlich auch der Zuschauer) nicht
mehr weiss, was ist und was nur vorgibt zu sein. Die Hasen werden schliesslich zurückkommen, die Polen auch. Und andere werden aus dem Nichts erscheinen und ins Nichts wieder entlassen
werden.
Erfahrbare Urängste
Alles eine Illusion? Wer weiss. David Lynch jedenfalls nicht. So behauptet er zumindest. Und für einmal ist ihm das auch zu glauben. Ohne festes Skript und über den Zeitraum von mehr als zwei
Jahren hat er an «Inland Empire» gearbeitet und einen Blick durch «verschwommene Scheiben des menschlichen Ichs auf dunkle Abgründe» geworfen. Es geht um Angst, so viel ist klar, so viel spürt
man. Um Urängste, um genauer zu sein. Um eine Erlösung vielleicht auch. Um Liebe, Sexualität und Untreue wie immer. Vermutlich auch um den Tod. Sicher um die Gesetze Hollywoods und das Wesen der
Schauspielerin, nicht der gescheiterten wie in «Mulholland Dr.», sondern der sich zugunsten der Rolle selbst aufgebenden, der in der kinematografischen Illusion gefangenen, von ihr aufgezehrten.
Dies alles ist freilich weniger logisch erkennbar, erfassbar, erklärbar als vielmehr unterbewusst erspürbar, erfahrbar, erlebbar. Lynch, der sich in den letzten Jahren intensiv mit
transzendentaler Meditation beschäftigt hat, nimmt hier nämlich endgültig Abschied von traditionellen Erzählmustern, die in Spurenelementen selbst noch in den ebenso wenig einer linearen
narrativen Struktur folgenden Traumbildern «Lost Highway» und «Mulholland Dr.» da waren. Das hier ist weit experimenteller, komplexer, konfuser, es ist weit mehr als Kunst im engeren Sinn zu
betrachten. Die Erzählebene wechselt vor allem im Mittel- und auch Schlussteil praktisch im Minutentakt, die Grenzen zwischen Film und Film im Film verwischen. Die Frage, was dies alles bedeuten
mag, ist entsprechend ebenso müssig wie jene, ob Lynch nun von allen guten Geistern verlassen wurde – im seltsamen Universum des David Lynch hatten ohnehin immer die bösen Geister das
Sagen.
Rau, hypnotisch, delirierend
Was zählt, ist das Ganze. Und dieses ist auch bei «Inland Empire» geprägt von einer nicht weiter steigerbaren Homogenität und Kongruenz der Einzelbausteine – von der perfekten Besetzung und dem
überragenden Schauspiel über den Ton, die Musik, das Tempo bis hin zum «Plot» und den Bildern. Letztere hat Lynch, schon seit je ein Techniktüftler, mit seiner «Spielzeugkamera» eingefangen,
einem herkömmlichen tragbaren Digital-Videorekorder, auf welchen er wegen der niedrigen Produktionskosten und der daraus resultierenden kreativen Freiheiten bei künftigen Filmprojekten exklusiv
zurückgreifen will. Dies erstaunt zunächst, gilt doch Lynch mit seinen von kräftigen Farben strotzenden «Gemälden» als einer der grössten Stilisten im heutigen Kino. Die billig hergestellten und
durchaus auch billig wirkenden, im Vergleich zu in ähnlicher Weise gefertigtem Material anderer Regisseure aber ungemein ästhetisch und kunstfertig geratenen grobkörnigen Bilder von «Inland
Empire» passen da eigentlich so gar nicht in sein bisheriges Œuvre. Doch sie passen, rau, hypnotisch, delirierend, in idealer Weise zum Erzählten, wo freilich – anders als bei dem als Pilot für
eine Fernsehserie konzipierten und erst über ein Jahr später mit einem Schluss versehenen Geniestreich «Mulholland Dr.» – die von Zufall und Intuition gelenkte Entstehungsgeschichte nicht ganz im
Verborgenen bleibt. Doch das vermag dem im Grossen wie im Kleinen, auf inhaltlicher wie auf inszenatorischer Ebene mit zahlreichen charakteristischen Lynch-Elementen versehenen Experimental- oder
Kunstfilm zu keiner Zeit die Kraft zu rauben. Denn anstatt eine rational nachvollziehbare Geschichte zu erzählen, vermittelt der Traumfabrikant Lynch hier eben ein durch Mark und Bein gehendes
und sich in Herz und Bauch einnistendes Gefühl. Und genau das ist die Magie des Kinos des David Lynch. Und genau das ist denn auch der Grund, weshalb Lynch als der grösste Künstler unter den
Regisseuren der Gegenwart angesehen werden muss.