Wie ein verängstigtes Tier

Mit erschütternd vereinnahmender Bildgewalt hat Regisseur Edward Berger den fast 100 Jahre alten Antikriegsroman «Im Westen nichts Neues» verfilmt. Vieles erinnert dabei an die grossen Hollywood-Leinwandschlachten – und fast alles ist auf deren Niveau.

Felix Kammerer im Film Im Westen nichts Neues

Netflix

von Sandro Danilo Spadini

Die Geschichte wiederholt sich, und der Krieg ist ein Kreislauf: Das ist die erste und die letzte Aussage, die Regisseur Edward Berger in seiner Neuverfilmung von Erich Maria Remarques 1929 erschienenem Roman «Im Westen nichts Neues» macht. Es ist das die Geschichte des Soldaten Paul Bäumer (Felix Kammerer), eines schmächtigen Burschen von kaum 18 Jahren. Doch es könnte auch die Geschichte jedes anderen jungen Mannes sein, der an der Front als Kanonenfutter verheizt wird. Etwa jenes namenlosen Soldaten, der in der Auftaktsequenz sein Leben lässt und dessen wieder zusammengeflickte Uniform an Paul übergehen wird. Oder jenes anderen leichenblassen Jünglings, der in der Schlussszene die Erkennungsmarken seiner gefallenen Kameraden einsammeln muss. Aber nun ist es halt die Geschichte von Paul. Respektive von Paulchen, der im Krieg zu Paul heranreifen soll. Er könne es kaum erwarten, er würde am liebsten gleich loslegen, sagt der Gymnasiast bei der Rekrutierung im Jahr 1917, im dritten Kriegsjahr. Was Paul nicht am Leib hat, macht er also mit Begeisterung wett. So wie so viele seiner Generation, der «besten Generation», die Deutschland jemals hatte, wie es der vor Pathos bebende und vor Kampfeslust entfesselte Instruktor in die Menge röhrt. «Auf in den Kampf!», hallt es da zum Abschluss. «Für den Kaiser, für Gott und das Vaterland!» Und es dauert dann nur ein, zwei filmische Wimpernschläge, bis auch Paul und seine ehedem geradeso naiv euphorisierten Freunde das als hohles Kriegsgeheul, als plumpes Drillgebelle, als leeres Hurragebrüll entlarvt haben und der Erste im matschigen Schützengraben an der Westfront winselt, er habe sich das aber ganz anders vorgestellt.   

Unheimliche Bilder

Bereits ein Jahr nach seiner Veröffentlichung wurde Remarques Roman ein erstes Mal von Lewis Milestone für Hollywood verfilmt; 1979 folgte dann noch eine amerikanisch-britische Adaption fürs Fernsehen von Delbert Mann. Und nun also ist der Stoff auch im Land seines Ursprungs mit Netflix-Geld fürs Kino und die Mattscheibe aufbereitet worden. Dass sich der 52-jährige Edward Berger dieser Aufgabe angenommen hat, ist nur schon mit Blick auf seine Filmografie als Glück zu werten – schliesslich hat der Mann nicht nur zu deutschen TV-Perlen wie «Unter Verdacht», «Schimanski», «KDD – Kriminaldauerdienst» oder «Deutschland 83» seinen Teil beigetragen, sondern auch amerikanische Prestigeproduktionen wie «Patrick Melrose» oder «Your Honor» (mit)verantwortet. Zweierlei überrascht denn auch nicht: dass Berger eine tadellose Technik an den Tag legt – und dass er sich dabei an den voluminöseren Hollywood-Produktionen orientiert, etwa Sam Mendes’ «1917» und noch offenkundiger an Steven Spielbergs «Saving Private Ryan». Deren formale Finesse bleibt – naturgemäss – zwar unerreicht; doch eine wohlfeile Kopie, ein lascher Abklatsch gar, ist Bergers Film mitnichten. In kalten, metallischen Farben und in erschütternd vereinnahmenden Bildern schildert «Im Westen nichts Neues» die Gräuel und das Grauen dieses Stellungskriegs an der Westfront, dem drei Millionen Soldaten zum Opfer fielen. Schonungslos. Niederschmetternd. Und auf nachgerade unheimliche Art und Weise. Plakativ ist das hingegen auch dann nicht, wenn es in den Nahkampf geht, wenn der Mensch zum Tier wird, wenn Blut auf die Kamera spritzt. Und wenn sich die toten Körper türmen: zerfetzte und zermalmte Körper, durchbohrte und durchlöcherte, verformte und vergaste, abgeschlachtete und abgefackelte, hingerichtete und hingemetzelte, zerbombte und zerschmetterte Körper. Denn nie wird dieser stets aus der Perspektive des waidwunden Jungsoldaten geschilderte und gleichsam mit ihm erlebte Schrecken auf den Kampf reduziert, nie wird ihm das Menschliche geraubt. Und deshalb passiert es auch nie, dass man irgendwann den Tod vor lauter Leichen nicht mehr sieht.

Öfter ruhig denn laut

Freilich ist «Im Westen nichts Neues» nicht nur ein Dokument des Schlachtfeldgrauens – das würde kein Mensch aushalten. Es ist das auch eine Geschichte über Freundschaft, über die Menschen hinter der Erkennungsmarke und über deren kleine Freuden und Triumphe: eine Gans im Kochtopf etwa oder der Geruch einer Frau an einem Foulard. Nichtig eigentlich, aber in diesen Momenten: das Grösste. Weil ihre Welt so klein geworden ist. Geschrumpft auf die Grösse einer Fotografie der Liebsten. Und in dieser winzigen Welt sind das Dinge, die einen nicht nur bei Laune, sondern am Leben halten. Die einen ein Stück weit wieder zum Menschen machen und das Biest für einen Moment bändigen können. Und die den grossen unsichtbaren Feind ein paar Schritte zurückdrängen: die Angst. Diese alles umfassende, alles ergreifende, alles aufsaugende Angst, die Berger so wirkungsvoll zu transportieren versteht. Der Unsinn und der Irrsinn des Krieges, das Rohe, das Brutale und das Entmenschlichende, das Leid, die Last und die Leere, das Auslaugende, das Abstumpfende und das Aushöhlende, die Perversion und der Zynismus: Das wurde alles schon eindrücklicher und erdrückender auf die Leinwand gebracht, zigmal, zahllose Male. Aber die Angst, die nackte, namenlose Angst – das hat man noch selten so gesehen, so gespürt geradezu. Und umso ernüchternder und bisweilen empörender ist es dann, wenn der Film plötzlich wieder zu jenen blendet, die mal gedacht haben, dass das eine gute Idee sei – oder noch schlimmer: die das noch immer denken. Die längst selbst wissen, dass der Krieg verloren ist, und trotzdem weitermachen wollen, weiter, immer weiter. Die noch retten wollen, was nicht mehr zu retten ist. Aus falschem Stolz. Tumber Sturheit. Und purer Eitelkeit. So gottlos, so sinnlos. Eben noch ging es für halb verhungerte Kerle um Leben und Tod – und dann wird nüchtern über Logistisches und Administratives beratschlagt, wird in edlem Ambiente gespeist und gezecht, dem Hund ein überschüssiges Stück Fleisch hingeworfen und über die Frische der Croissants geklönt. So schamlos, so skrupellos. Und hier dann doch auch ein wenig plump und eindimensional. Etwa der von Devid Striesow bis zur Karikatur herunterdämonisierte General Friedrich. Oder auch die Figur des mit den Friedensverhandlungen betrauten Sozialdemokraten Matthias Erzberger, die stets etwas eingeschüchtert wirkende und mit seltsamem schwäbischem Akzent radebrechende Stimme der Vernunft, von Daniel Brühl zwar nuanciert gespielt, aber doch gar grob gezeichnet. Entsprechend sind es diese um eine historische Einordnung bemühten Szenen, die zu den weniger gelungenen dieses rund zweieinhalbstündigen Epos gehören, und nicht etwa die vordergründig langatmigen oder die repetitiven. Die sind mitunter wohl durchaus ein Krampf; sie haben aber insofern ihre Daseinsberechtigung, als sie dem grösseren Ganzen zudienen: einem Film, der am Ende mehr ruhige als laute Passagen hat, der aber gleichwohl wuchtig wirkt. Der echt wirkt. Und der konsequent ist. Eine Handlung im engeren Sinne hat er nicht, so wie der Krieg keiner Handlung folgt, zumindest keiner, die eine hübsche Erzählung ergeben würde. Aber so viel wie hier hat man kaum je über ihn – den Horror, den Horror – erfahren. Und das verrät wahre Meisterschaft.