In die Weite, in die Tiefe

Der diesjährige Oscar-Gewinner «Nomadland» ist ein bescheidener, sanftmütiger und einfühlsamer Film über eine vom Glück Verlassene und von der Gesellschaft Vergessene, die ihren eigenen ungewöhnlichen Weg geht.

Disney

von Sandro Danilo Spadini

Das ist ein Film über das Abschiednehmen. Oder vielleicht doch: über die neuen Anfänge, die jedem Ende innewohnen sollen. So genau weiss man das nicht; so eindeutig lässt sich das nicht ablesen an dem vom Schuften und vom Schicksal gegerbten Gesicht von Fern (Frances McDormand), der alles vereinnahmenden Protagonistin aus «Nomadland». Schon rund ein Jahr ist es her, dass ihr Mann gestorben ist; und kurz darauf hat auch noch ihre Heimatstadt quasi aufgehört zu existieren, weil der einzige Arbeitgeber am Ort nach 88 Jahren seine Baustofffabrik geschlossen hat – alle Jobs weg, die Häuser gepfändet, und sogar die Postleitzahl wurde gelöscht. Das hat eine gewisse Melancholie in Ferns Blick hinterlassen. Doch sie hat am Ende eben doch praktisch reagiert, mit diesem ihr eigenen widerspenstigen Optimismus, einer zupackenden Genügsamkeit, einem trotzigen Gottvertrauen: Sie hat ihr Hab und Gut verhökert oder eingestellt, einen Van gekauft und umgebaut und hat sich auf den Weg gemacht – auf den ungewöhnlichen Weg quer durchs Land als Wanderarbeiterin, als Nomadin, die mal hier in einem Abwicklungszentrum von Amazon, mal da in der Küche eines Fast-Food-Betriebs malocht. Fern ist da nicht wählerisch, kann sie natürlich auch nicht sein: «Ich brauche Arbeit. Ich mag Arbeit», sagt sie einmal, die darauf besteht, nicht obdachlos zu sein, sondern «hauslos», und man solle sich keine Sorgen um sie machen. Und das machen wir uns dann auch tatsächlich nicht: nicht um eine wie Fern, die jenen, die schwächer sind als sie, unter die Arme greift und selbst nicht zu stolz ist, Hilfe anzunehmen.

Poetisch-naturalistischer Ansatz

Goldener Löwe in Venedig, Publikumspreis in Toronto und drei Oscars – in der Topkategorie, für Hauptdarstellerin Frances McDormand (ihr dritter!) und für die 39-jährige chinesische Regisseurin Chloé Zhao: In diesen Film geht man also mit einer erhöhten Anspruchshaltung. Recht eigentlich sind es aber gar nicht so sehr all die Trophäen, die die Erwartungen an «Nomadland» hochschrauben, sondern ein Drama namens «The Rider»: ein Indie-Streifen über einen versehrten jungen Rodeo-Star, mit dem Zhao und ihr poetisch-naturalistischer Ansatz vor drei Jahren ein erstes Mal aufhorchen liessen. Schon dort ging es um Dinge, die zu Ende gehen: das Loslassen einer lebenslangen Leidenschaft, das Überwinden archaischer Vorstellungen von maskuliner Identität und das Abschiednehmen von einer quintessenziellen amerikanischen Lebenswirklichkeit. Und schon dort tauchte Zhao ein in einen bisweilen skurril anmutenden naturverbundenen Mikrokosmos, in dem die vom Glück Verlassenen und von der Gesellschaft Vergessenen eine Nische finden, die anspruchslos sein mag, aber ihre eigene, ihre ureigene Nische ist. Ein gelegentliches Staunen darüber, über die prekären Umstände und über diese speziellen Welten – der Rodeoreiter wie der Nomaden –, kann Zhao zwar nicht verbergen. Aber sie macht keine grosse Sache daraus; sie zelebriert die Hässlichkeit und Trostlosigkeit nicht und suhlt sich nicht pervers wohlig im eigenen Entsetzen mit dieser üblen Mischung aus perfider Lust am Blossstellen und gönnerischem Mitleid. Vielmehr begegnet sie in ihrem bescheidenen und zutiefst unprätentiösen Film den oftmals sich selbst oder Versionen von sich spielenden Figuren mit echtem Mitgefühl und aufrichtigem Interesse. Da wird nicht moralisiert, da wird nicht romantisiert, und schon gar nicht masst sich Zhao an, grossspurig eine Ode an die «kleinen Leute» anzustimmen. Und ob das nun das wahre Amerika ist, diese sperrangelweit offenen Räume in Nevada, Arizona, North Dakota, Nebraska und Kalifornien, wo der Film in der unendlichen Weite zu wahrer Tiefe findet; ob das nun das Herzen Amerikas ist, das hier vielleicht etwas langsamer, aber dafür umso lauter und erst noch am rechten Fleck schlägt – das spielt doch keine Rolle. Es sind jedenfalls echte, stachelige Orte und mitunter auch Unorte und Nichtorte, die Zhao auf ihrem Trip ins Niemandsland findet: ein Selbsthilfeseminar in der Wüste etwa oder eben das Amazon-Center und die Fast-Food-Küche, die Einstellhallen und Parkplätze, die RV-Parks und Billigstmotels. Sogar dort, an den kuriosesten Orten, lässt sich freilich Schönheit finden, man muss nur gut hinschauen. Und wenn Zhao etwas kann, dann gerade das: gut hinschauen.

Grandiose McDormand

Zuvörderst aber ist das weniger ein Film über Amerika als eine Charakterstudie: mehr zart denn bitter, weder verzärtelt noch jammernd, dafür dezent wehmütig und öfter noch richtig verträumt, ganz im Moment lebend, auch mal ziellos herumstreunend, sich treiben lassend. In «Nomadland» ist das nämlich so: Nicht nur die fabelhafte Frances McDormand, die einzig mögliche Besetzung für diese Rolle, geht komplett auf in der Hauptfigur, sondern auch der Film; es sind nicht Regie und Skript, die Fern den Weg und ihren Willen aufzwingen, es scheint gerade umgekehrt: als lasse sich Zhao von ihr leiten, als richte sie sich nach ihren Bedürfnissen, als passe sie sich ihrem Tempo an. Eine eigenwillige und ziemlich einzigartige Strategie ist das und eine wahnsinnig wirkungsvolle obendrein. Unerzwungen wirkt das alles, natürlich, im Fluss, eine gleitende Reise, die nicht so sehr an einem bestimmten Ort ankommt, sondern in einem Zustand mündet: einem Gefühl vollkommener Wahrhaftigkeit.