von Sandro Danilo Spadini
Der Verdacht, es könnte sich bei der Netflix-Produktion
«Reptile» um ein bisschen mehr als einen handelsüblichen Thriller handeln, wird bereits von den baren Fakten
genährt: von der mutigen bis übermütigen Laufzeit von 134 Minuten etwa und vor allem von der originellen Besetzung mit dem allseits geliebten vierschrötigen Charakterdarsteller Benicio Del Toro,
dem schauspielerisch durchaus beschlagenen Popstar Justin Timberlake und der lange, lange abgetauchten Neunzigerjahre-Prinzessin Alicia Silverstone. Und tatsächlich braucht der hier debütierende
Regisseur Grant Singer dann kaum zehn Minuten, um diesen Verdacht zur frohen Gewissheit zu erhärten. Denn schon im Prolog liegt ein Unbehagen in der Luft, das zwar noch nicht so recht zu fassen,
dafür umso eisiger ist. Mehr als ein Hauch von Mysterium umweht das junge Paar (Timberlake und Matilda Lutz), das hier so geschäftig tut; auf fast unangenehme Weise greifbar sind die Spannungen
zwischen den beiden; unübersehbar ist der Schatten des Zweifels an der Legitimität, der sich bald auf ihr Tun legt. Und dann liegt da plötzlich eine Leiche auf dem Boden, die Leiche der jungen
Frau. Das Messer steckt noch in ihrem Körper, als ihr Partner sie findet. Es folgt, bildschirmfüllend und untermalt von einem musikalischen Donnerschlag, die Einblendung des Filmtitels:
«Reptile»! Und unser Interesse ist geweckt. Ja mehr noch: Es macht sich Vorfreude breit und schaudert einen zugleich.
Auf Finchers Spuren
Dieser Grant Singer scheint also den Dreh rauszuhaben. Einen Namen gemacht hat sich der 38-Jährige bislang exklusiv in der Sparte des Musikvideoclips, wo er mit den Grossen und Hippen des
Business zusammengearbeitet hat: von Taylor Swift über The Weeknd bis Lorde. Dass er es auch im Filmgeschäft weit bringen könnte, dafür stehen die Chancen aber auch nicht schlecht: zum Luftigen
einen, weil auch der grosse David Fincher einst als Regisseur von Musikvideos angefangen hat; und zum Handfesteren anderen, weil er ebendiesem Fincher, der für den Typus des klugen Thrillers
schon seit einem Vierteljahrhundert der Goldstandard ist, in seinem Erstling gar nicht mal so ungelenk nacheifert. Es ist mit anderen Worten eine reichlich düstere Sache, die in «Reptile»
abläuft: Mord und Totschlag in einem Sumpf der Korruption und einem Dickicht der Verschwörung – und das Ganze vor einer kahlen Kulisse in einer Kleinstadt in Maine und inmitten von allerlei
kruden bis kaputten Kerlen. Einem freilich scheint das alles zumindest vorderhand nicht allzu sehr aufs Gemüt zu drücken: dem in diesem undurchsichtigen und wendungsreichen Plot um eine
Immobilienmaklerfamilie, ihre Feinde und Verbündeten ermittelnden Polizisten Tom Nichols (Del Toro). Er ist erst vor Kurzem von Philadelphia in diese vermeintlich ruhigeren Gefilde gekommen,
nachdem es dort eine üble Bestechungsgeschichte gegeben hatte; vermittelt hat ihm den Gig seine Gattin (Silverstone), die die Nichte des örtlichen Polizeicaptains (Eric Bogosian) ist. Nichols ist
zwar ein Cop, der seinem Job mit Eifer und Geschick nachgeht. Er ist aber keiner dieser Fanatiker, die ob ihrer gleichsam heiligen Berufung die Welt um sie herum vergessen und vernachlässigen. Im
Gegensatz zu nahezu allen seinen cinematischen und televisionären Berufskollegen führt er eine glückliche Ehe – wenngleich es da die Andeutung einer Affäre gibt, die seine Frau eventuell
unterhält. Und er interessiert sich am Tatort dann neben den Spuren halt auch mal für den Hightech-Wasserhahn in der Küche oder erkundigt sich mitten in den Ermittlungen bei einem
Gebrauchtwagenhändler aus privaten Motiven nach dessen Angeboten. Dass Nichols trotz dieser «Ablenkungen» weit mehr auf dem Kasten hat als seine Kollegen – etwa als sein sympathischer
Rookie-Partner Dan (Ato Essandoh) oder der nicht ganz so sympathische Drogenspürhund Wally (Domenick Lombardozzi) –, das wird allerdings schnell klar. Und deshalb haben wir auch dann noch
Vertrauen in ihn, als wir im Zuge immer neuer Volten und frischer Verdächtiger allmählich Angst kriegen, den Überblick zu verlieren.
Der beste Del Toro seit Jahren
Ein Urvertrauen in Benicio Del Toro hat seinerseits Regisseur Singer. Und das natürlich mit vollstem Recht und mitnichten nur deswegen, weil der Oscar-prämierte Kritikerfavorit mit ihm und dem
ebenfalls in der Musikvideoszene heimischen Benjamin Brewer das Skript von «Reptile» verfasst hat. So viele Grossaufnahmen des Puerto-Ricaners gibt es hier, dass man meinen könnte, Singer sei
verliebt in ihn. Und derart viele grossartige Szenen hat er, ein solch unaufgeregtes und so perfekt mit dem ruhigen Gestus des Films korrespondierendes Spiel legt er hier an den Tag, dass wir uns
tatsächlich aufs Neue in den Schauspieler Del Toro verlieben, nachdem dieser uns in den letzten Jahren ja nicht gerade verwöhnt hat mit allzu ansprechenden Rollen. Hier hingegen ist die Rolle
mehr als ansprechend; sie ist gar wichtiger als die Kriminalhandlung selbst, wiewohl «Reptile» nicht ganz als Psychogramm durchgeht. Die Fokussierung auf die Figur, über deren Hintergrund und
Beweggründe man letztlich eben gar nicht mal so viel in Erfahrung bringt, geht zwar nicht auf Kosten von Del Toros Co-Stars – zumal «Reptile» einer jener Filme ist, die bis in die hinterste
Nebenrolle mit Charakterköpfen besetzt sind, mit Leuten wie Michael Pitt, Mike Pniewski, Frances Fisher und der Sängerin Sky Ferreira, um nur einige zu den bereits Genannten hinzuzufügen. Es
leiden bisweilen aber die Spannung und die Dichte darunter. Unabhängig davon gehört freilich ohnehin weder das eine noch das andere zu den (vielen) Stärken dieses durch und durch stimmungsvollen,
so kreativ konzipierten und «kinowürdig» ausschauenden Films. Dafür war man beim Schnitt dann doch einen Tick zu nonchalant. So hätte man nicht nur manche Szene stutzen dürfen; die eine oder
andere Sequenz hätte man auch ganz streichen können – obwohl sie allesamt kompetent gemacht sind. Es sind dies denn auch jene Momente, wo Singer eine gewisse – für einen Debütanten verständliche
und verzeihliche – Überambition offenbart. Und es ist das auch der Grund, weshalb «Reptile» am Ende «nur» ein sehr guter und kein grossartiger Thriller geworden ist. Aber wollen wir mal
nicht gierig sein. Schliesslich sind wir es gerade von Netflix-Produktionen gewohnt, dass Regisseure sich bloss noch als Content-Manager verstehen und schon grundsätzlich auf Schema F setzen.
Dann also doch zehnmal lieber ein Typ wie Grant Singer, der gerne auch mal was wagt, selbst wenn er nicht immer richtigliegt.