Keine Ehre mehr unter Dieben

Altmeister Marco Bellocchio schildert in «Il traditore» seriös und minutiös, wie ein hochrangiger Cosa-Nostra-Mann über zwei Jahrzehnte als Kronzeuge der Mafia zusetzte. Das sorgt für viele lichte, aber auch manche schlichte Momente.

Filmcoopi

von Sandro Danilo Spadini

Zehn Minuten dauert die Szene, bevor endlich der Filmtitel eingeblendet wird. Eine Party wird da gezeigt, gleichsam mitgefeiert, ja zelebriert; Feuerwerk inklusive. Eine fellinieske Festa mit flamboyanten Figuren. Ein berauscht rauschendes Spektakel wie bei Coppola mit allen, die etwas zu melden haben in der sizilianischen Mafia. Aber was wir am Ende davon mitnehmen, sind nicht so sehr all die wuchtigen und wichtigen Namen, die uns in dieser Villa am Meer nonstop um die Ohren gehauen und eingeblendet werden. Sondern der Wille zu einer gewissen Grösse, der sich aus dieser Pre-Title-Sequenz mit ihren Verweisen auf die Kinogeschichte herauslesen lässt. Ja, Marco Bellocchio, der 80-jährige Regierebell aus der Emilia-Romagna, hat es nochmals vor hier. Die Frage, die sich nach den nur mehr leidlich prickelnden Werken der letzten Dekade stellt, ist bloss: Hat er es auch noch drauf? Kann dieser geschichtsaffine und obrigkeitskritische Intellektuelle, der den Erfahrungsschatz eines halben Kinojahrhunderts hütet, noch einmal etwas auf die Leinwand zaubern, was sich etwa mit «Vincere» (2009) messen kann, seiner preisgekrönten Geschichte über die Mussolini-Geliebte Ida Dalser? Oder gar mit «Buongiorno, notte» (2003), dieser packenden Aufarbeitung der Entführung von Aldo Moro? Eine spannende Frage, zweifellos. Allein: Sie zu beantworten, ist auch nach den voluminösen 145 Minuten, über die sich sein neues Werk «Il traditore» erstreckt und bisweilen eben auch hinzieht, gar nicht so einfach.

Das ultimative Sakrileg

Wie so oft in seiner Karriere führt uns Bellocchio auch hier in die Vergangenheit, zunächst in den Herbst des Jahres 1980, als nach der Grande Festa alsbald das böse Erwachen folgt für die Cosa-Nostra-Clans aus Palermo – ein Kater bestialischen Ausmasses, wenn die rabiat aufstrebenden Corleonesi um den brutalen Schlächter Salvatore Riina die Vormachtstellung für sich reklamieren und zum Grossreinemachen ansetzen. Der smarte Tommaso «Don Masino» Buscetta, ein Playboy, den sie auch den «Boss zweier Welten» nannten, hat die Zeichen der Zeit früh erkannt und sich nach Rio de Janeiro abgesetzt. Doch das reicht Riina nicht. Einen von Buscettas Brüdern bringt er um. Einen Neffen ebenso. Und schliesslich seine beiden erwachsenen Söhne. Als die brasilianische Polizei Buscetta 1983 dann verhaftet und mit Methoden verhört, gegenüber denen das Treiben auf Guantánamo wie ein Plausch in der Wellnessoase wirkt, will der sich zwar erst mal mit Strychnin umbringen; als er dann aber nach Italien ausgeliefert wird und dem legendären Mafiajäger Giovanni Falcone (Fausto Russo Alesi) gegenübersitzt, entschliesst er sich zum ultimativen Sakrileg: Der Mann, der sich selbst als «Soldat», als «einfachen Soldaten» beschreibt, bricht die Omertà und packt aus. «Ich bin kein Informant»: Darauf beharrt er aber wiederholt. «Ich bin kein Spion, keine Ratte. Ich bin ein Ehrenmann.» Er habe vor 40 Jahren, als Kind, «absolute Loyalität bis ans Lebensende» gegenüber der Cosa Nostra geschworen. Das sei freilich die alte Cosa Nostra gewesen, vor der Geschichte mit dem Heroin. Die habe noch Werte gehabt und die Armen schützen wollen. Riina hingegen, der «Capo die Capi», das sei eine «kranke Seele». Und deshalb ist Buscetta nun auch bereit, diesen historischen Schlag gegen das organisierte Verbrechen zu ermöglichen – als erster Kronzeuge in einem Prozess gegen die Mafia.

Fabelhafter Favino

Richter Falcone, für den es keine «Unberührbaren» gibt und an dessen überragend integrer Autorität sogar der alte Bellocchio nicht rütteln mag, hört sich das alles ruhig rauchend an: ohne zu richten, ohne ein Urteil zu fällen. Und genauso verfährt der Film auch mit seiner omnipräsenten Hauptfigur: Weder stilisiert er Buscetta zum tapferen Helden, dessen Tabubruch im Verlauf zweier Jahrzehnte Hunderte von Cosa-Nostra-Mitgliedern hinter Gitter gebracht hat; noch verteufelt er ihn als mickrigen Heuchler, der selbst Abscheuliches getan oder zu verantworten hat. Das ist sicher nicht verkehrt; die Sache ist schliesslich komplex genug. Doch wenigstens im Umgang mit seinem so zentralen Protagonisten hätte der Film eine kräftigere Portion Emotion vertragen. Zwar gönnt Bellocchio ihm die eine oder andere Extravaganz – in Rückblenden, Visionen, Albträumen – und lässt ihm über weite Strecken eine schön kinoselige Inszenierung angedeihen: wuchtig traditionell, im Stile des Altmeisters, der er ist. Aber trotzdem schleppt sich das Geschehen bisweilen ein wenig hin, nicht nur in den Gerichtssaalszenen, die wohl immer wieder in einen Freakshow-Zirkus mit Löwengebrüll und Hyänengeschrei ausarten, in denen letztlich aber gleichwohl der Chronist in Bellocchio die Oberhand behauptet, der seriös und minutiös historische Fakten protokolliert. Dieses allzu Sachliche, allzu Distanzierte hat schon dem Vorgänger «Fai bei sogni» nicht gutgetan. Und es bewirkt auch in «Il traditore», dass es neben vielen lichten auch manche schlichten Momente gibt. Durchweg famos agiert derweil Hauptdarsteller Pierfrancesco Favino, der nicht nur beeindruckende Präsenz markiert, sondern auch beachtliche Wandlungsfähigkeit demonstriert (für die der Römer gerade eben in der Rolle des skandalumwitterten früheren Ministerpräsidenten Bettino Craxi ein gar noch schlüssigeres Zeugnis abgelegt hat). Und fast noch fulminanter ist die Show, die Luigi Lo Cascio in sizilianischem Turbo-Kauderwelsch und Fabrizio Ferracane mit seiner bösen Blasiertheit abziehen. Gewissermassen retten also die Stars diese mitunter spröde Geschichtslektion und die Ehre des Marco Bellocchio. Doch kaum hat man sich auf dieses Fazit festgelegt, holt der Maestro doch noch zum grossen Schlag aus und fackelt einmal mehr ein Finale ab, das nur so strotzt vor cineastischer Grandezza. Wie man einen Film abschliesst, das weiss Bellocchio jedenfalls noch immer.