Bleib, wohin dein Herz dich getragen hat

Mit der Bestsellerverfilmung «Non ti muovere» meistert Regisseur und Hauptdarsteller Sergio Castellitto einen sowohl formal als auch inhaltlich beeindruckenden emotionalen Parforceritt.

 

von Sandro Danilo Spadini

«Wir sind alle grausam, manche mehr, manche weniger», wird der erfolgreiche Chirurg Timoteo (Sergio Castellitto) etwa in der Mitte des Films sagen, und längst ist zu diesem Zeitpunkt nicht nur ihm selbst klar, dass er zu ersterer Kategorie zählt. Was auch sonst liesse sich über diesen Mann sagen, der mit seiner Ehefrau ein Kind in die Welt setzt, kurz nachdem er bereits seine Geliebte geschwängert hat, der seine Affäre auch während der Schwangerschaft seiner Frau und nach der Geburt seiner Tochter nicht aufzugeben bereit ist und darob kaum Anzeichen von Reue oder Gewissensbissen zeigt? Wie auch könnte man Mitgefühl für diesen Mann aufbringen, den man fast ausschliesslich von seiner irrationalen, egoistischen, rücksichtslosen Seite kennen gelernt hat? Wie will man sich erklären, dass dieser Mann mit sich selbst leben kann, sich selbst ertragen kann, eine Rechtfertigung für sein Handeln findet? Nein, ein Sympathieträger ist dieser Timoteo nicht – und das weiss er auch. Erklärungen und Entschuldigungen sucht er keine, kein Verständnis erwartet er, kein Mitleid, keinen Trost, und in den Spiegel schauen kann er auch nicht mehr. «Gott wird uns nie verzeihen», sagt einmal seine Geliebte. «Gott gibt es nicht, amore», antwortet er. «Hoffen wir es», fällt ihr dazu nur noch ein. Und doch fällt es schwer, ihn zu verdammen, diesen Mann, der eigentlich doch bloss geliebt hat, der eigentlich doch so ist wie alle anderen auch. Denn: Wir sind alle grausam.

Parforceritt und Seelenstriptease

Mit seiner zweiten Regiearbeit «Non ti muovere», basierend auf dem gleichnamigen Beststeller von Margaret Mazzantini, legt der routinierte Schauspieler Sergio Castellitto ein höchst beeindruckendes Werk vor, in dem ein Mann schonungslos offen und unsentimental ehrlich mit sich selbst ins Gericht geht. Auslöser für den beklemmenden Seelenstriptease ist ein tragischer Unfall seiner 15-jährigen Tochter. Während sie mit dem Tod ringt, ringt Timoteo mit sich selbst. In vor allem anfangs fast hypnotisch kühlen, farbenarmen Bildern von bisweilen geradezu surrealistischer Qualität lässt er die Monate des Lugs, Betrugs und Verrats, die Zeit der Liebe, Ekstase und Leidenschaft Revue passieren. Kongenial unterstützt von einer kunstvollen Optik finden Erinnerungsfetzen ihren Weg in Timoteos Hirn, die ihn auf einen Parforceritt durch die Vergangenheit schicken. Am Anfang seiner Affäre mit Italia (Penélope Cruz) steht eine Vergewaltigung, woraus zunächst eine auf anonymen, groben, fieberhaften Sex beruhende Beziehung entsteht, in der keine Anzeichen von Verliebtheit oder gar Liebe auszumachen sind. Erst allmählich stellen sich romantische Gefühle ein. «Spiel nicht mit mir, oder ich bringe dich um!», antwortet Italia auf Timoteos erstes Liebesbekenntnis, derweil ihm anzumerken ist, dass er wirklich nicht mehr zum Spielen hier ist. Trotzdem wird er seine Frau nicht verlassen, kann er nicht, will er vielleicht auch nicht. Denn seine Frau ist schwanger; sie hat ihm damit einen Wunsch erfüllt, den er erstmals nach seinen ersten erotischen Eskapaden mit Italia geäussert hat. Warum hat er das getan? Um seine ausserehelichen Aktivitäten herunterzuspielen? Um seine Ehe zu retten? Oder weil er den Verstand verloren hat? Man weiss es nicht.

Fragen bleiben offen

Vieles bleibt unklar in «Non ti muovere», vieles bleibt im Dunkeln oder zumindest im Graubereich. Zu Beginn des fast ausschliesslich in Rückblenden erzählten Films gibt es eine wunderbare Szene zwischen Timoteo und seiner Frau, welche die tiefe Verbundenheit des Paares zeigt und es einem fast unmöglich macht, zu verstehen, weshalb er überhaupt erst mehr oder minder sehenden Auges diese Lawine der emotionalen Verirrung losgetreten hat. Warum sie geweint habe, fragt er sie nach der Beerdigung seines Vaters. «Ich habe für dich geweint», antwortet sie, worauf er zu bedenken gibt: «Ich war nicht traurig.» «Eben», sagt sie. Leider bleiben solche Gegenüberstellungen – die Geborgenheit der Ehe vs. die Leidenschaft der Affäre – letztlich aber die Ausnahme. Doch um Erklärungen ist Castellitto wie Timoteo nicht bemüht. Und Erklärungen für die Irrungen und Wirrungen des Herzens zu suchen, ist schliesslich ohnehin ebenso müssig wie unsinnig.