Zwei Brüder im Vorhof der Hölle

50 Jahre nach seinem Kinodebüt «12 Angry Men» legt der 84-jährige Sidney Lumet mit dem grandios gespielten Thriller «Before the Devil Knows You’re Dead» ein neues Meisterwerk vor.

 

von Sandro Danilo Spadini

Es ist ein Verbrechen ohne Opfer – niemand wird verletzt»: Dergestalt ködert der finanziell lädierte Andy (Philip Seymour Hoffman) seinen nicht minder klammen kleinen Bruder Hank (Ethan Hawke), den von ihm gewaltlos geplanten Überfall auf ein gut versichertes Juweliergeschäft auszuführen. Der Plan hört sich gut an, jedoch wissen wir dank der nichtlinearen Erzählstruktur von Sidney Lumets «Before the Devil Knows You’re Dead» bereits, dass er scheitern wird. Und er hat auch einen eigentlich entscheidenden Haken, der Hank zunächst denn auch noch zögern lässt: Das zu überfallende Geschäft gehört den Eltern der beiden (Albert Finney und Rosemary Harris). Wie wir freilich auch schon wissen, wird Hank seine Bedenken überwinden. Und wie wir sogleich erkennen werden, stellt der Verrat an der Familie für Hank ohnehin kein unüberwindbares Dilemma dar – trifft er sich doch immer donnerstags mit Andys Gattin (Marisa Tomei) zu einem schwitzigen Schäferstündchen. Da nun aber auch der sozialisiert drogensüchtige Andy mit seinen bald auffliegenden Betrügereien am Arbeitsplatz kein Engel ist, sind wir nur dezent entrüstet. Alles in allem haben die beiden in moralischer Finsternis Wandernden die Hölle verdient, die sie jetzt erwartet.

Melodramatischer Thriller

Es sei ein Melodrama, das er hier gedreht habe, betont Regie-Ikone Sidney Lumet. Als einen Thriller sehen den Film derweil andere wie Drehbuchdebütantin Kelly Masterson. Was «Before the Devil Knows You’re Dead» in jedem Fall darstellt, ist ganz grosses Kino. 50 Jahre nach seinem legendären Erstling «12 Angry Men», über 30 Jahre nach «Serpico» und «Network» und 25 Jahre nach «The Verdict» hat der 84-jährige Lumet nun tatsächlich wieder ein Glanzstück des amerikanischen Erzählkinos geschaffen. So recht zugetraut hat man ihm das indes nicht mehr, zumal in seinem Schaffen spätestens Mitte der Achtziger ein Abwärtstrend einsetzte, der praktisch ungebremst bis ins Jahr 2006 verlief. Mit dem Gerichtsdrama «Find Me Guilty» liess der Altmeister des Polizei- und Justizfilms dann aber wieder aufhorchen. Und nun das. Ein ruhig und zügig zugleich erzählter, hochkonzentriert inszenierter Film, der seine stilistischen Schmankerl nie protzig zur Schau stellt und den man mit Fug und Recht modern im besten Sinne nennen darf. Gedreht hat ihn Lumet nämlich komplett digital in High Definition, was mit den allenthalben kühlen zwischenmenschlichen Beziehungen in Einklang steht und dem düsteren Geschehen durch einen virtuosen Umgang mit dem Licht einen wirkungsvollen Kontrast verleiht und zusammen mit den mehrheitlich banalen Schauplätzen dem Melodramatischen die Spitze nimmt.

Taumeln im Dunkeln

Lumet ist indes nicht nur für das Treffen des richtigen Tons und das Erzeugen einer beklemmenden Atmosphäre bekannt, sondern vor allem auch für seine akribische Vorbereitung und die Fähigkeit, das Beste aus seinen Darstellern herauszuholen. Nicht dem Zufall zuzuschreiben ist es daher, dass er für seinen wiederum in New York spielenden neuen Film fast ausschliesslich auf im Big Apple lebende oder dort aufgewachsene Schauspieler zurückgegriffen hat, die wie er vom Theater kommen. Aus dem grandiosen Ensemble hervorzuheben ist abermals Philip Seymour Hoffman, der hier nach «Charlie Wilson’s War» und «The Savages» die dritte herausragende Leistung in einem herausragenden Film binnen eines Jahres zeigt. Wie er es schafft, dass wir gerade im zweiten, wenn nicht nach Entschuldigungen, so doch nach Erklärungen suchenden Teil seiner ekelhaften Figur etwas Milde entgegenbringen, verdient Hochachtung. Am Ende, wenn der Film unerbittlich auf das Schlimmstmögliche hinsteuert, taumeln Hoffmans Andy und Hawkes Hank ohnehin nur noch in der Dunkelheit. Es ist indes nicht die Polizei, die ihnen zusetzt – diese braucht es hier nicht, zumal Andy und Hank längst jenseits eines derart profanen moralischen Korrektivs sind. Es sind Schuld und Verrat, die ihnen den Boden unter den Füssen wegziehen, bis dass schliesslich nur noch der Tod Erlösung bringen könnte – wenigstens für die halbe Stunde im Himmel, bevor der Teufel weiss, dass sie tot sind.