Hugo und Scorsese – das könnte ein Abenteuer werden

In seinem elffach Oscar-nominierten 3-D-Kinderfilm «Hugo» entführt uns Starregisseur Martin Scorsese in eine farbenfrohe Welt voller Wunder – und zu den Anfängen des Kinos.

 

von Sandro Danilo Spadini

Der Typ, der Robert De Niro eine Familie bis aufs Blut terrorisieren liess; der Joe Pesci einen unbescholtenen Kellner in den Fuss schiessen liess; der Leonardo DiCaprio zuletzt in den Irrsinn gleiten liess: Dieser Typ hat jetzt also einen Kinderfilm gedreht. Und nicht irgendeinen! Den Golden Globe haben sie Martin Scorsese für «Hugo» schon gegeben. Und für den Oscar ist er gleich elfmal nominiert. Nicht auszuschliessen, dass sich ihm der Goldmann auch noch um den Hals wirft – spielt doch in der Adaption von Brian Selznicks Bestseller «Die Entdeckung des Hugo Cabret» ein ebenso metallen glänzender Bursche eine ganz wichtige Rolle. Genauer: eine sehr ausgefeilte Aufziehpuppe mit Roboterqualitäten, die der kleine Hugo (Asa Butterfield) und sein Vater (Jude Law) im Paris der Dreissigerjahre zu reparieren suchen – und die ein faszinierendes Geheimnis in sich trägt. Die Puppe kommt denn auch mit, als der liebe Vater stirbt und Hugo zum Saufbold-Onkel in die Gare Montparnasse muss, wo die beiden zu den Uhren schauen. Hier lebt er gewissermassen in den Mauern, und hier wird Hugo nach dem Verschwinden des Onkels als nunmehr «Gesetzloser» zum aufgeweckten Beobachter, der seine Kenntnisse von Läden und Leuten zum Stibitzen von allerlei Ess- und Spielbarem einsetzt. Er wird so auch zu unserem Stellvertreter, durch dessen Augen wir diese kleine Wunderwelt von Martin Scorsese auskundschaften.

«Die beste 3-D-Verwendung»

Wie ein Setzkasten wirkt dieser Pariser Retro-Bahnhof zuweilen mit seinen prächtigen Dekorationen. Freilich ist hier einiges in Bewegung – nicht zuletzt der unterbelichtete Slapstick-Beauftragte des Films: der von Sacha Baron Cohen («Borat») mit wohlig-gestrigem Witz gespielte Bahnhofvorstand mit seinem bösen Hund, die Hugo unentwegt auf den Fersen sind. Ihre Verfolgungsjagden durch die belebte Station sind natürlich prima Ausreden für das Ausnützen der 3-D-Technik, die hier gemäss «Avatar»-Regisseur James Cameron zur «besten Verwendung» gelangt, «die ich je gesehen habe». Schon vor dem Vorspann hatte Scorsese sein Spielfeld auf diese Weise inspiziert und vermessen. Gerissen, wie er ist, hatte er den Hunger nach dreidimensionalen Schauwerten so fürs Erste gestillt, damit man den Kopf frei hat für die Handlung. Denn diese ist Scorsese ebenso wichtig wie das Tricksen und Zaubern mit der für ihn neuen Technik. Es geht hier schliesslich um Dinge, denen Martin Scorsese seit je viel Kraft und Herzblut widmet: die Filmgeschichte und das Präservieren derselben. Bis in die Zeit, als die Bilder laufen und die Träume fliegen lernten, führt uns der Maestro zurück. Und den legendären Filmemacher Georges Méliès (Ben Kingsley) lässt er von Hugo aufstöbern und über «das neue Wunder» sinnieren, das er einst als einer der Pioniere zu verwirklichen half. Mittlerweile indes ist Méliès dem Vergessen anheimgefallen, hat alles verloren und das Träumen verlernt und betreibt in der Gare Montparnasse einen Spielzeugladen. Was das alles aber mit Hugos Puppe zu tun hat, bleibt einstweilen ein kleines Mysterium. Es ist das die Triebfeder des Plots – oder wie es Méliès‘ Enkelin Isabelle (das einzige nicht britische Hauptbesetzungsmitglied: Chloë Grace Moretz) so schön ankündigt: «Das könnte ein Abenteuer werden.»

Das Kino feiert sich selbst

Nicht nur die vage Ähnlichkeit der beiden Metallmänner, der so virtuose 3-D-Einsatz und die schiere Grossartigkeit dieses Ausflugs in fantastische Gefilde dürften Scorsese am 26. Februar im Kodak Theatre zum Vorteil gereichen. Auch das fast kindlich freudige Hinausposaunen seiner unsterblichen Liebe für das Kino und die Filmgeschichte ist etwas, was die Academy bestimmt zu honorieren wissen wird. Denn kaum etwas macht die Filmindustrie lieber, als sich selbst zu feiern. Mit dem Topfavoriten «The Artist» tut das heuer freilich noch ein zweiter nominierter Streifen mit grösster Nonchalance und gänzlich unbeeindruckt von den trüben und aufwühlenden Geschehnissen in der richtigen Welt. Und man muss einfach verzaubert sein, wenn die Filmwelt hier wie dort das tut, was sie am besten kann: Träume fabrizieren.