Als ob der Kopf explodiert

Trotz Karrierebestleistung von Star Hugh Jackman hat Florian Zellers von der Bühne auf die Leinwand übersetztes Depressionsdrama «The Son» nicht den emotionalen Einschlag, den es haben sollte. Und schon gar nicht die Finesse des gefeierten Vorgängers «The Father».

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von Sandro Danilo Spadini

Nach dem endenden Leben nun also ein beginnendes? Im ersten Moment möchte man es meinen. Doch die Auftaktszene von «The Son» täuscht. Zwar liegt da ein schlummerndes Baby friedlich in seinem Bettchen. Doch um diesen Sohn wird es hier nicht gehen. Und um ein hoffnungsvoll beginnendes Leben erst recht nicht. Vielmehr knüpft der französisch-schweizerische Dramatiker Florian Zeller in seinem Kinozweitling quasi dort an, wo er vor zwei Jahren in seiner Oscar-prämierten Eigenadaption «The Father» aufgehört hat: Nachdem er da finten- und finessenreich von den Wirrungen eines demenzkranken Mittachzigers erzählt hat, bringt er nun die depressiven Irrungen eines 17-Jährigen von der Bühne auf die Leinwand. Nicholas (Zen McGrath) heisst dieser, und er ist neben dem neugeborenen Theo der andere Sohn des viel beschäftigten Karrieristen Peter (Hugh Jackman), der Sohn aus dessen vor zwei Jahren in die Brüche gegangener erster Ehe mit Kate (Laura Dern). Bei ihr wohnt Nicholas derzeit; doch eines Abends steht Kate unangemeldet und der Verzweiflung nahe bei Peter und dessen neuer Gattin Beth (Vanessa Kirby) auf der Matte und verkündet, dass Nicholas ohne ihr Wissen fast einen Monat lang nicht in der Schule gewesen sei. «Ihm geht es nicht gut», meint sie. Und: «Er macht mir Angst.» Für Peter ist das alles völlig neu, kommt es aus heiterem Himmel; inmitten seines frischen zweiten Familienglücks scheint sein Erstgeborener doch etwas ins Abseits geraten zu sein. Doch nun will er sich seiner Verantwortung stellen. Mit aller Entschlossenheit. Und so sucht er schon am nächsten Tag, nachdem er sein Büro ganz hoch oben in einem dieser Glaspaläste mit Blick über die New Yorker Skyline verlassen hat, seinen Sohn auf. «Hast du Probleme?», fragt er ihn – als ob das nicht offensichtlich wäre. «Es ist das Leben. Es drückt mich nieder», meint Nicholas, der sich mit seinem Strubbelhaar, den schlaffen Schultern und dem David-Foster-Wallace-Poster an der Wand vordergründig nicht gross vom gewöhnlichen angstbeherrschten amerikanischen Teenager unterscheidet. Aber da ist mehr. Viel mehr leider. Nicholas möchte um jeden Preis zu seinem Vater und seinem neuen Brüderchen ziehen. Denn hier bei der Mutter komme er auf zu viele dunkle Gedanken, schluchzt er. Und er fühle sich, als ob sein Kopf explodiere.
 
Furchteinflössende Hilflosigkeit
 
Peter willigt nach kurzem Zögern in den Wunsch seines Sohns ein, zumal er sich die Schuld gibt an dessen Krise. Denn er war es, der damals Kate für eine Jüngere sitzen liess und so Nicholas’ Welt erschütterte und schliesslich dermassen aus den Fugen brachte, dass sich dieser nun ritzen muss, um seinen Schmerz zu kanalisieren. Aber so ganz sicher ist sich Peter seiner Sache nicht. Das freilich liegt nicht nur daran, dass er mit Haut und Haaren in seinem in Richtung Washington und auf eine Präsidentschaftskampagne zustrebenden Job aufgeht und von diesem noch stärker absorbiert wird als von den nächtlichen Schreikrämpfen seines Babys und der wachsenden Erschöpfung seiner Frau; es hat auch viel mit seinem eigenen Vater (Anthony Hopkins) zu tun, der sowohl physisch als auch emotional die allermeiste Zeit absent war. Nur ja nicht dessen Fehler wiederholen – das ist Peters vordinglichstes Ziel. Und doch sieht er sich mit zunehmendem Befremden auf den Spuren des alten harten Knochens wandeln. Zwar kommt es ihm nicht in den Sinn, Dinge zu sagen wie «Komm verdammt noch mal darüber hinweg» – ein Rat, der ihm von seinem Vater mit nachgerade diabolischem Spott an den Kopf geworfen wird, der das alles einfach nur «erbärmlich» findet. Und auch ist er ob all der beruflichen Ambition nicht blind für die Sorgen des Sohns. Doch weiss er beim besten Willen einfach nicht, was er tun soll. Eine furchteinflössende Hilflosigkeit bemächtigt sich seiner, die immer tiefere Furchen in sein Gesicht gräbt und in einer stetig wechselnden Taktik Ausdruck findet – von Strenge zu Herzlichkeit zu Schuldgefühlen zu Motivationsreden bis zur Selbsttäuschung, wenn er sich und Kate einzureden versucht, dass es Nicholas nun doch schon viel besser gehe, dass alles gut komme, dass alles bald wieder normal werde.
 
Psychologisch ziemlich simpel
 
Es ehrt Zeller und auch den zu einer Karrierebestleistung auflaufenden Hugh Jackman, dass man dem gleichsam unsympathisch erfolgsverwöhnten Peter diese rat-, hilf- und machtlose Zerrissenheit belässt und ihn nicht einfach zum gedankenverlorenen Alleinschuldigen in seinem Drama macht. Leider aber trägt auch das Unterdrücken dieses dramaturgischen Impulses nicht nennenswert dazu bei, Zellers Zweitling mit jener psychologischen Tiefe auszustatten, die es brauchte, um einen wirklich durchzurütteln, durchzuschütteln und den angezeigten emotionalen Einschlag zu erzielen. Denn so elegant hier alles daherkommt – die Bars und die Büros und die Wohnungen, das Interieur, die Kleidung, die Stadt New York –, so uninspiriert und unfein ist die Inszenierung und so plump und prosaisch sind die Dialoge. Von der Finesse, der Originalität und der clever-kunstvollen Konstruktion in «The Father», wo dem Inhalt um das Leiden des Protagonisten eine zweckdienliche Form entgegengestellt wurde, fehlt hier nun fast jede Spur. Und obwohl Zeller die guten Absichten ganz sicher nicht abzusprechen sind, wirkt sein Ansatz dieses Mal auch weniger herzlich, bisweilen sogar fast klinisch unterkühlt und stets irgendwie hohl. Umso grösser wird dieses emotionale Vakuum denn auch, wenn das Geschehen mit der Zeit an Dringlichkeit einbüsst und dem Stillstand nahekommt. Auch deshalb scheinen die über zwei Stunden Spiellänge nicht gerechtfertigt. Oder höchstens insofern, als Zeller in der letzten halben Stunde doch noch den einen oder anderen Punch zu landen vermag – wenn auch mehr mit dem Holzhammer und in einer Konstellation, wo das Ende schon lange absehbar geworden ist. Trotzdem gibt es hier nun doch noch Momente, die berühren, die beelenden, die bleiben. Freilich drängt sich da dann auch die Frage auf, um welchen Sohn es bei alledem tatsächlich gegangen ist: um Nicholas, der vom australischen Newcomer Zen McGrath zwar einfühlsam verkörpert wird, der aber bei aller Höllenqual eine nur schemenhaft umrissene Nebenfigur bleibt. Oder doch um Peter, der ja nicht nur der Vater dieser verloren gegangenen Seele ist, sondern auch ein Sohn, dessen Erziehung mitverantwortlich dafür ist, dass er nun in zaudernder Schockstarre in den Schlund dieses schlimmsten aller Albträume blickt. Von solch diffuser Ambiguität hätte es gerne mehr sein dürfen in diesem Film, der keinesfalls komplett enttäuscht – der aber die vom Vorgänger in vielleicht unrealistische Höhe getriebenen Erwartungen nie erfüllen kann.