Murder One

 

1995 war ein gutes, ja ein geradezu ideales Jahr für die Lancierung einer Anwaltsserie: Der O.-J-Simpson-Prozess machte die Öffentlichkeit kirre, Fernsehsender wie Court-TV erzielten Traumquoten, und gewöhnliche Leute ohne jeglichen juristischen Background begannen sich auf einmal brennend für gerade noch als staubtrocken empfundene Prozeduren wie Voruntersuchungen und Geschworenenauswahl zu interessieren. Umso erstaunlicher mutet es rückblickend an, dass Steven Bochcos meisterhaftes Gerichtsdrama «Murder One» zwar bei Kritik und Branchenverbänden zu reüssieren vermochte, beim Publikum aber recht eigentlich durchfiel. Schliesslich fuhr der grosse Zampano und Innovator der amerikanischen Serienlandschaft der Achtziger und Neunziger, der Meilensteine wie «Hillstreet Blues», «NYPD Blue» oder auch «L.A. Law» verantwortete, hier schweres Geschütz auf: Über die Distanz von 23 Folgen liess er von kompetenten und gestandenen TV-Cracks einen spektakulären Mordfall von A bis Z untersuchen, erörtern und verhandeln – in Zeiten von Netflix und Co. und dem damit ermöglichten Binging vielleicht keine ganz so grosse Sache mehr, damals aber ein wenn nicht revolutionärer, so doch ambitionierter Ansatz, der das noch nicht dergestalt konditionierte Publikum freilich zu grösster Disziplin und höchster Konzentration zwang und das Verpassen einer Folge quasi zum Dealbreaker machte: eine Hochrisikowette also auf die Aufmerksamkeitsspanne des amerikanischen TV-Konsumenten. Der Lohn für dieses Wagnis waren Emmy-, Bafta- und Golden-Globe-Nominierungen und ein gewisser Kult- und Liebhaberstatus – die Strafe bestand in einem Quotenloch, einem Konzept- und einem breit angelegten Personalwechsel für Staffel 2 und endlich der Absetzung nach 41 Folgen im Jahr 1997.

Wiewohl auch die zweite und letzte Staffel noch einiges für sich hatte mit ihren drei voneinander unabhängigen Mordfällen über die Spanne von 18 Folgen – der grosse Wurf ist und bleibt der davor en détail aufgerollte «Fall Jessica», wie die Serie in hiesigen Gefilden hiess: Die Entdeckung der Leiche einer vergewaltigten 15-jährigen blonden Schönheit löst eine mediale Eruption in Hollywood aus, nachdem schnell bekannt geworden ist, dass das Opfer sexuelle Beziehungen zu mehreren mächtigen Playern in Tinseltown unterhielt. Gleich zwei von ihnen sind dem Vernehmen nach Klienten von Staranwalt Teddy Hoffman (Daniel Benzali): der flatterhaft irrlichternde Filmstar-Playboy Neal Avedon (Jason Gedrick), der mit der Minderjährigen seinen Sex-und-Drogen-Lifestyle zu zelebrieren pflegte, und der undurchsichtige Philanthrop Richard Cross (Stanley Tucci), der mit der Schwester von Jessica liiert ist und als eine Art Mentor (oder Zuhälter?) für das viel zu frühreife Mädchen fungierte. Beide geraten sie rasch ins Visier des wadenbeisserischen Detective Arthur Polson (Dylan Baker). Doch Teddy Hoffman ist schwer präsent, um zunächst den einen und sodann den anderen rauszuboxen. Relativ bald jedoch gerät auch die Welt von Hoffman und seiner Edelkanzlei ins Wanken – mysteriöse Vorfälle und brenzlige Kalamitäten, auch im privaten Bereich, häufen sich, und stets scheint der finstere Richard Cross dabei die Strippen zu ziehen. Am Ende läuft alles auf die Frage hinaus, ob Cross seinem inzwischen angeklagten Freund Avedon tatsächlich helfen will oder ob er nicht vielmehr gedenkt, ihn an seiner Statt für seine Sünden büssen zu lassen. Dass diese Frage einen über volle 23 wendungsreiche Folgen in Atem hält und in helle Aufregung zu versetzen vermag, ist schon mal eine Kunst für sich – wofür sich die spektakuläre Besetzung um den nichts weniger als sensationellen Stanley Tucci einen schönen Anteil gutschreiben lassen darf. Aber dass das mit dieser Bochco-typischen Süffigkeit geschieht, ohne dabei je ins Triviale abzugleiten, und dass das ganze hysterische Ballyhoo, das ein prominent besetztes Gerichtsverfahren in der Ära des Reality-TV so auslöst, derart umfassend und perspektivenreich dokumentiert wird – das macht «Murder One» nicht nur zu der vielleicht herausragendsten Errungenschaft dieses vor gut zwei Jahren verstorbenen Grandseigneurs der amerikanischen Serienlandschaft, sondern auch zu einem der bemerkenswertesten und meistunterschätzten TV-Ereignisse der Neunzigerjahre. Und gut gealtert ist die Serie sowieso. Wie schrieb doch das Branchenblatt «Entertainment Weekly» in einer Würdigung kurz nach Bochcos Tod: «‹Murder One› war seiner Zeit voraus, passt aber perfekt in unsere heutige.» Und es liesse sich noch anfügen, dass dies obendrein ein prima Beispiel dafür ist, dass schon vor Anbruch des sogenannt goldenen Serienzeitalters in der Flimmerkiste bisweilen Kinowürdiges zu bestaunen war.