Wenn das Kind bloss ein Accessoire ist

Das aus Kinderaugen erzählte Sorgerechtsdrama «What Maisie Knew» beruht zwar auf einem Henry-James-Buch von 1897, ist aber auch im Manhattan von heute von hoher Aktualität.

 

von Sandro Danilo Spadini

Es gibt Männerregisseure (Michael Mann, Quentin Tarantino), es gibt Frauenregisseure (Pedro Almodóvar, Ingmar Bergman), und es gibt, seltener, Kinderregisseure. Das Team Scott McGehee/David Siegel ist spätestens nun, nach dem fünften gemeinsamen Film, in diese letzte Kategorie einzuordnen. Und interessanterweise werden die Filmkinder des Kaliforniers und des Brooklyners von Mal zu Mal jünger. Im Durchbruchsfilm «The Deep End» verlor Tilda Swinton die Kontrolle im Kampf um ihren unter Mordverdacht stehenden 18-jährigen Sohn; in «Bee Season» verlor Richard Gere das Augenmass beim Buchstabierwettbewerb-Training seiner 11-jährigen Tochter; und in «What Maisie Knew» verlieren Julianne Moore und Steve Coogan nun den Verstand im Streit um das Sorgerecht für ihr 6-jähriges Mädchen. Ein zweites Mal nach «The Deep End», der auf einem Roman von Elisabeth Sanxay Holding aus dem Jahr 1947 beruht, variieren McGehee und Siegel hier zudem eine literarische Vorlage; und erneut transponieren sie dabei Ort und Zeit. So wird aus Henry James‘ London von 1897 das Manhattan von heute – und so wird aus einer Geschichte, die thematisch ihre Brisanz längst verloren hat, eine so feine wie scharfe Beobachtung von Narzissmus und Egoismus in New Yorks intellektueller High Society.

Liebevolle Inszenierung

Die Moralkeule mögen McGehee und Siegel gleichwohl nicht schwingen. Auch dann nicht, wenn sich die Musikerin Susanna (Moore) und der Kunsthändler Beale (Coogan) vor den Augen ihrer Tochter (erstmals: Onata Aprile) übelste Beschimpfungen an den Kopf werfen; sie nach ihrer Trennung immer wieder versetzen wie eine lästig gewordene Geliebte; oder sie alleine in den Grossstadtdschungel schicken wie einen tapferen Pfadfinder. Stattdessen nehmen sie konsequent die Perspektive eines patenten kleinen Mädchens ein, aus dessen grossen Augen nur ganz zum Schluss mal eine Träne kullert. Und so gerne sie die Verantwortungslosigkeit dieser schon angejahrten Rockbraut in Skinny Jeans und hochhackigen Stiefeletten und dieses eloquenten Schaumschlägers mit wehendem Haar blossstellen, so viel lieber zeigen sie Herzlichkeit: die kindliche von Maisie und später immer mehr jene von Margo (Joanna Vanderham) und Lincoln (Alexander Skarsgård), den neuen jungen Ehepartnern der Eltern. Es ergeben sich hier Momente von grosser Zärtlichkeit in einem ohnehin liebevoll inszenierten Film. Warm sind dessen Farben, sonnig ist das Wetter unter der Sonne New Yorks, weich sind die Bewegungen der Kamera, sanft ist die Musik, und geschmeidig ist die Erzählung trotz kleinerer Sprünge auf der Zeitachse. Glatt ist das aber keineswegs. Denn McGehee und Siegel machen es dem Publikum nicht so einfach und folgen wie mancher Kollege in vergleichbaren Filmen einem rigiden Schwarzweissschema. Vielmehr zeigen sie auch Szenen, in denen klar wird, dass Susanna und Beale ihre Tochter sehr wohl lieben. Aber sie sind halt immer auf dem Sprung, es gibt da immer etwas anderes, etwas Wichtigeres als Maisie: die Karriere, die Geschäfte, die Freunde, das Leben. Sie sind im Grunde die wahren Kinder hier, wenn sie einfach nicht fähig sind, ihre Verpflichtungen einzuhalten, und dem anderen aus purer Eifersucht partout das Sorgerecht nicht gönnen.

Ein stetes Hin und Her

So ganz anders als in Hollywood üblich verfahren die Regisseure auch mit ihrer kindlichen Heldin. Von der umwerfend süssen Onata Aprile verlangen sie keine geräuschvollen Grimmigkeiten, keine altklugen Albernheiten, keine sentimentalen Süssigkeiten – sie soll kein Kind spielen, sondern ein Kind sein. Was sich daraus ergibt, ist eine erstaunlich subtile und vor allem realistische Darstellung; und was sich daraus wiederum ergibt, ist eine umso stärkere Bindung zu diesem so grossmütigen kleinen Schatz, der wie eine heisse Kartoffel weitergereicht wird von Susanna zu Beale, zu Margo, zu Lincoln. Und auch wenn McGehee und Siegel bisweilen die Jöh-Karte ziehen: Zu verniedlichen gedenken sie hier nichts. Weil all die erwachsenen Patzer und Frevel aber aus den Augen von Maisie erzählt werden, ist vieles halt mehr zum Staunen als zum Heulen.