Frei von Schuld und Scham

Der grosse Stilist Todd Haynes hat auch in «May December» ein paar Tricks auf Lager, die Mund und Augen öffnen. Gleichwohl hängt sein Psychodrama zwischenzeitlich gar arg durch und vermag so die in der ersten Hälfte geweckten Erwartungen am Ende nicht ganz zu erfüllen.

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Ascot Elite

von Sandro Danilo Spadini

Als Elizabeth (Natalie Portman) der Familie Atherton-Yoo ihre Aufwartung macht, hält sie eine Schachtel in der Hand. Es ist das freilich kein Mitbringsel; sie hat die Box vorn vor der Haustür gefunden. Deren Inhalt: Kot. Kacke. Scheisse. Die Adressaten nehmen es mit einem Schulterzucken und Galgenhumor: wohl jemand, der wütend sei, dass er nicht zum Barbecue eingeladen worden sei. Man sieht: Sie sind das gewohnt – auch wenn es weniger geworden sei in den letzten Jahren. Aber klar ist auch: Die Leute hier haben nicht vergessen. Haben nicht vergessen, dass Gracie Atherton (Julianne Moore) vor 24 Jahren als 36-jährige Mutter eine Liebesaffäre mit dem 13-jährigen Joe Yoo (Charles Melton) anfing. Dass sie dafür hinter Gitter wanderte. Und dass sie in Haft das erste von drei Kindern zur Welt brachte, deren Vater Joe ist. Es ist auch nicht zu erwarten, dass dieser Skandal alsbald in Vergessenheit geraten wird. Und das wiederum liegt an dieser Elizabeth, die nun hier im Garten von Joe und Gracie steht und den Inhalt der Schachtel mit einer Mischung aus Ekel und Entsetzen quittiert. Die nämlich ist eine sich zu Höherem berufen fühlende Fernsehschauspielerin und ist nun hierher ins so schwüle wie malerische Savannah gekommen, um Gracie zu studieren, die sie in einem Independent-Film verkörpern soll. «Ich will, dass du dich gesehen fühlst», sagt sie zu ihr. Sie solle sich unter die Leute mischen und mit ihnen reden, meint Gracie wohlwollend und macht auf unkompliziert: «Tu, was du tun musst – und nimm dir einen Hotdog!» Doch unkompliziert ist an dieser Geschichte natürlich nichts. Und so harmonisch, wie es hier auf dieser idyllischen Insel ausserhalb der Stadt den Anschein macht, ist das Leben der Familie Atherton-Yoo dann eher doch nicht. Die ersten Risse an der über die Jahre sorgsam zurechtgezupften und glattgebügelten Oberfläche offenbaren sich uns denn auch bald schon. Da kann sich Gracie noch lange so aufführen, als empfinde sie weder Schuld noch Scham ob des frivolen Geschehens von damals, wie Elizabeth konsterniert konstatiert.
 
Milchiger Soap-Opera-Look
 
Wie der grosse Stilist Todd Haynes diese Risse in seinem Psychodrama «May December» offenlegt, ist von jener exquisiten Subtilität, die man vom Regisseur von formvollendeten (Melo)dramen wie «Far from Heaven», «Mildred Pierce» und «Carol» nun mal erwarten darf. Die Handlung indes, die lose auf einem wahren Fall beruht und von den in diesen Dingen wenig erfahrenen Eheleuten Samy Burch und Alex Mechanik niedergeschrieben wurde, hat fraglos etwas Boulevardeskes, etwas Voyeuristisches, etwas «Fernsehfilm der Woche»-haftes; und so ist es nichts als konsequent, hat Haynes seinem zehnten Kinowerk eine Form verpasst, die mit ihrem milchig-sonnendurchfluteten Look und den donnernd-dramatischen Pianomusik-Überfällen augenzwinkernd an den Kitsch einer Soap-Opera aus den Achtziger- oder Neunzigerjahren gemahnt. Bei aller stilistischen Verspieltheit und leichtfüssigen Verschmitztheit geht es hier freilich um Themen, die dem Vorreiter des «New Queer Cinema» seit je am grossen Herzen liegen: um Ideale und Identität, um soziale Normen und sexuelle Abweichler – oder um es ganz stil- und sachgerecht seifig zu formulieren: um eine verbotene Liebe. Anders als bei den homosexuellen Beziehungen in den beiden in den Fünfzigerjahren angesiedelten Meisterwerken «Far from Heaven» und «Carol» ist das, was in «May December» auf so nonchalante Art und von den Figuren bisweilen mit einem zutiefst weltabgewandten und realitätsfernen Selbstverständnis erörtert wird, etwas, das nicht bloss von der Norm abweicht, sondern schlicht auch gegen das Gesetz verstösst: eine Frau mittleren Alters, die einen Siebtklässler verführt – wobei sie in grotesker Verleugnung ihres Tuns dann tatsächlich behauptet, er sei es gewesen, der sie verführt habe. Dass Haynes das in nüchternem bis belustigtem Ton vortragen lässt und bei alledem sich jeglichen anklagenden Pieps verkneift, ist hingegen keineswegs befremdlich; es ist vielmehr eine Aufforderung an uns, seine «komplexe und menschliche Geschichte», wie Elizabeth dieses Drama bereits in einer frühen Szene nennt, in all ihren Facetten zu erfassen.  
 
Toller Job von allen drei Stars
 
Die grosse Kunst des Todd Haynes ist es schon immer gewesen, auf nachgerade poetischen Pfaden zum Kern seiner Geschichte und zum Wesen seiner Figuren vorzudringen. Das wuchtig Überstilisierte, das formal Artifizielle, das seinen Filmen innewohnt, war derweil nie eine Hürde auf dem Weg zur Wahrheit, auf der Reise zur Wahrhaftigkeit; es hat im Gegenteil nicht nur das Suchen attraktiver gemacht, sondern seltsamer- und wundersamerweise auch das Finden beschleunigt. Haynes also vermag unsere Augen zu öffnen, während einem noch der Mund vor Staunen über seine Zauberei offen steht. Hier nun hat er neben den visuellen Kniffen auch noch einen narrativen Trick auf Lager: Ziel und Aufgabe der einen Hauptfigur ist es, den Charakter der anderen zu ergründen, und wir sind herzlich eingeladen, dies mit ihr zu tun. Allerdings drängt sich bei dieser laut Haynes von Ingmar Bergmans «Persona» und «Licht im Winter» inspirierten Spiegelung und Verdoppelung mitunter der Verdacht auf, dass das für den Regisseur spannender sein könnte als für uns. Zwar driftet Haynes dabei nie ins Akademische ab, so wie ihm das bei seiner Bob-Dylan-Spurensuche «I’m Not There» passiert ist; denn anders als dort gelingt es ihm in «May December» recht unverkrampft, die reizvolle Idee zum Leben zu erwecken. Nach einer Stunde jedoch scheint ihm und seinem Autorenduo nicht mehr allzu viel einzufallen, was die so fein illustrierte azaleengesäumte Südstaatenwelt bewegen und die moralisch fragwürdigen Figuren in diesem so mystischen Fleck mit seinen weiss umzäunten Prachtbauten in eine Wallung versetzen würde, die wir nicht schon längst haben kommen spüren. Denn just als man hinreichend euphorisiert ist von den in der ersten Hälfte geweckten Erwartungen und meint, jetzt werde Haynes dann die Dramatikschraube anziehen, tritt der Film an Ort und hängt in Szenen von aussergewöhnlicher Belanglosigkeit und ausgesuchter Beliebigkeit auch mal gar arg durch. Dass dies vor allem jene Momente sind, in denen Elizabeth und Gracie ausnahmsweise Pause von ihrem akkurat kaschierten Zickenkrieg und ihrem weniger gut verhohlenen Egotrip haben, liegt indes nicht daran, dass Natalie Portman und Julianne Moore allzu schmerzlich vermisst würden – der junge Charles Melton («Riverdale») als allmählich zu Sinnen und ins Grübeln kommender schwächerer und unsere Sympathien verdienender Teil dieser ungleichen Liaison macht einen geradeso tollen wie die beiden sich höflich hässig duellierenden Oscar-Preisträgerinnen. Er ist es auch, der den entscheidenden Satz in diesem Psychodrama sagt: «Das ist keine Geschichte, das ist mein Leben!» Doch zurück bleibt letztlich das Gefühl, dass weder die Geschichte ganz zu Ende erzählt noch dieses (oder irgendein anderes) Leben ausreichend ausgeschmückt wurde.